0927 - Nacht über GALAHAD
Revolvers auf, den er sich in den Mund geschoben hatte. Endlich.
Gleich würden die Stimmen verstummen, für immer.
Zu lange hatte er gewartet, zu lange ausgeharrt. Die Psychologen und Pfaffen hatten ihm wieder und wieder gesagt, dass Trauer Zeit bräuchte und seelische Wunden langsamer heilten als körperliche. Aber genug war genug! Keinen weiteren Tag, wozu auch? Warum die Qual verlängern? Nein, er ertrug es einfach nicht mehr.
Draußen vor den Fenstern der kleinen Bibliothek seiner Campuswohnung jagte der beißend kalte Herbstwind herabgefallene Blätter über die leeren Straßen und pfiff um die altehrwürdigen Gemäuer aus roten Backsteinen. Bäume wiegten sich auf den Grünflächen zwischen den betagten Universitätsbauten, und das Licht des fahlen Mondes spiegelte sich auf Schieferdächern, die älter waren als all die Menschen, die tagsüber unter ihnen lehrten und lernten.
Julian Morrow schloss die Augen. Der sechsundvierzigjährige Hochschuldozent, Autor mehrerer physikalischer Standardwerke und wohl führendste Brite seines wissenschaftlichen Fachgebiets war ganz ruhig, zum ersten Mal seit Wochen. Er atmete ein, atmete aus, tief und langsam, und hieß den Widerstand der Waffe an seinen Zähnen sowie das kalte Metall auf seinen Lippen willkommen wie einen alten Freund.
Sein Finger am Abzug. Das Gefühl von Macht, von Kontrolle. Ein Muskelzucken nur, und es wäre vorbei. Die Entscheidung lag bei ihm allein; nur er konnte steuern, was hier geschah, niemand sonst war Herr dieser Lage. Endlich wieder er .
Der Wind pfiff ums Haus, rappelte an den Fensterscheiben. Die Uhr über dem kleinen Kamin tick-tackte vor sich hin, beständig, verlässlich. Konstanten, allesamt. Die Geräuschkulisse seines Abschieds.
Und der Finger am Abzug krümmte sich.
»Jules…«
Eine weibliche Stimme, ihre Stimme, wie ein Echo, das aus weiter Ferne zu ihm durchdrang. Der Duft ihres Parfüms stieg in seine Nase.
Ihm wurde übel. Nein. Nicht jetzt, nie wieder!
»Jules…«
Sie kam immer des Nachts. Das wusste er aus schmerzhafter Erfahrung. Und sie fand ihn überall. Lautlos und unbemerkt schlich sie sich an, kroch in seinen Geist und griff nach seiner geschundenen Seele. Mit kalten Fingern, die kein Erbarmen kannten. Er hätte alles getan, um sich ihrer zu entledigen, doch wohin er auch rannte, sie folgte ihm. Als wolle sie ihm beweisen, dass nicht einmal er vor seiner Vergangenheit fliehen konnte.
Julian Morrow erstarrte innerlich und presste seine Lider noch fester zusammen. Verschwinde, Donna! , dachte er. Lass mich in Frieden, hörst du?
»Sieh mich an, Jules.«
Nein.
Mit einem Mal war die Erinnerung da, als hätte jemand in seinem Hirn einen Schalter umgelegt. Das Gefühl ihres warmen, weichen Körpers unter dem seinen, die Grübchen in ihren Wangen, Sommersprossen auf ihrer Haut. Sein Unterleib reagierte prompt, und es beschämte ihn.
»Komm zu mir, Jules.«
In den ganzen zwölf Jahren ihrer Ehe hatte sie ihn nur ein einziges Mal bei seinem wahren Namen genannt - vor dem Altar. Danach Jules, immer Jules.
Nein.
An die Erinnerungen war er gewöhnt. Die Vorwürfe und anklagenden Litaneien darüber, was er alles falsch gemacht hatte. Dass sie angeblich noch am Leben wäre, wenn er nur ein wenig schneller, ein wenig besser reagiert hätte. In den ersten Wochen war sie jede Nacht erschienen, während er übermüdet und sturzbetrunken auf einen Schlaf gewartet hatte, der doch nur für die Unschuldigen kam. Abend für Abend hatte er sich in Selbstmitleid gesuhlt, und irgendwann war sie erschienen - um ihm ihre Wunden zu zeigen. Damit er nie vergaß, was seinetwegen aus ihr geworden war. Beim ersten Mal, als sie plötzlich in den Schatten der Zimmerecke gestanden und wie selbstverständlich das Wort an ihn gerichtet hatte, hatte er noch das halbe Haus zusammengebrüllt vor Angst, Wut und Überforderung. Mittlerweile nahm er es einfach hin, wenn sie kam. Sie war nicht real, das wusste er nun. Wie hatte es der Psychofritze ausgedrückt? Irgendwas mit halluzinatorischer Manifestation eines überwältigenden Schuldkomplexes? Na, es hätte ihn schlimmer treffen können. Und er war schuldig.
»Geh nicht, Jules.«
Halt's Maul.
Der Finger krümmte sich weiter.
»Ich liebe dich, Jules.«
Halt's Maul. Halt's Maul! »Halt dein gottverdammtes Maul !!«
Die letzten Worte schrie er hinaus, so laut er konnte. Die Hand mit der Waffe rutschte daraufhin weg, Augen öffneten sich reflexartig - und dann war sie da, gleich auf dem
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