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0927 - Nacht über GALAHAD

0927 - Nacht über GALAHAD

Titel: 0927 - Nacht über GALAHAD Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Borner
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mondbeschienenen Gehweg vor seinem Fenster. Sie sah aus wie zwanzig, wie in seinen Träumen von früher, und sie trug den khakifarbenen Mantel, den er so gemocht hatte, weil er ihn an den Herbst erinnerte, der ihre Zeit gewesen war. Um sie herum wirbelten die Blätter, doch sie blieb vom Wind unberührt. Nicht ein Haar reagierte auf das Wetter, als könne die Realität ihr längst nichts mehr anhaben.
    Julian schluchzte. Selbst wenn er es gewollt hätte, hätte er den Blick nicht von ihr abwenden können. »Donna…«
    Weg waren die Vorsätze. Weg war die Kontrolle über die Situation, die Ruhe in seiner Seele. Der Anblick der Frau, die er noch immer mehr als alles liebte, wischte sie fort wie eine kühle Brise die Wolken am Himmel. Und auf einmal war er nur noch Jules, das sabbernde Häufchen Elend. Jules, der Schuldige. Wie immer.
    »Donna, es tut mir so leid«, rief er ihr durch die geschlossene Scheibe hinunter, und die Tränen liefen ihm abermals über die Wangen. Kleine Spucketropfen flogen auf das Fenster, und sein nach viel zu viel Sherry stinkender Atem ließ es beschlagen. Seine Stimme war längst ein Wimmern geworden, kaum mehr verständlich. »Wir hätten nie fahren dürfen, wir…«
    Aber wie hätte ich das wissen sollen? Wer konnte schon damit rechnen?
    Donna-die-nicht-da-war blickte auf, strahlte ihn an. Ein Ruck ging durch ihren Körper, und der Mantel rutschte zu Boden. Darunter war sie nackt. Fleischgewordene Sehnsucht. »Komm zu mir, Jules«, sagte sie abermals, leckte sich über die Lippen. »Ich vermisse dich so sehr.« Absurd, dass er das auf diese Entfernung so genau wahrnehmen konnte, doch so war es. So wirkte es für ihn. Obwohl sie kaum den Mund bewegte und durch mehrere Meter sowie ein dickes Fenster von ihm getrennt war, verstand er sie genau. Sie sagte: »Ich habe dir auch jemanden mitgebracht.«
    Dann trat sie zur Seite und machte den Blick auf eine kleine Gestalt frei, die sich bisher hinter ihr vor seinen Blicken verborgen hatte. Eine Gestalt, die Julian Morrow seit Monaten nicht mehr gesehen hatte. Seit sie gestorben war - in seinen Armen und durch seine Hand.
    »Hallo, Dad«, sagte Nigel und streckte seine kleinen, vierjährigen, toten Arme nach ihm aus.
    ***
    Invergordon, Gegenwart
    Das perfekte Ende eines perfekten Tages , dachte Sarah frustriert und steckte das Handy wieder in die Tasche ihrer Leinenhose. Kein Netz, typisch. Ausgerechnet.
    Noch immer verstand sie nicht, was gerade geschehen war. Sie war pünktlich gewesen, hatte das Gebäude ohne nennenswerte Probleme gefunden, und dann…
    »Bedaure, aber einen Professor Morrow gibt es hier nicht. Der Name ist mir auch kein Begriff, und ich arbeite seit über zwanzig Jahren in diesem Unternehmen.«
    Der Gesichtsausdruck des stämmigen Muttchens am Empfang von Oceanix war eine Mischung aus Mitleid und Belustigung gewesen. Selbst das Einladungsschreiben, das Sarah aus ihrer Kladde gefischt und ihr präsentiert hatte, um ihr Kommen zu rechtfertigen, hatte sie von ihrer Meinung nicht abbringen können. Der Termin, wegen dessen man Sarah Marshall nach Invergordon gebeten hatte, stand nicht in Muttchens Computer - und der Personaler, den zu treffen sie extra angereist war, existierte nicht. Zumindest ihrer Ansicht nach.
    »Schauen Sie mal, hier«, hatte die Empfangsdame schließlich gesagt und den Brief beäugt, als wäre er Falschgeld. »Das ist nicht einmal unser Briefkopf. Er sieht so ähnlich aus, gut, aber in den Details… Tut mir leid, Miss, aber da hat man Sie wohl veralbert.«
    Un-fass-bar.
    Wer, bitte schön, machte denn so etwas? Wer hatte etwas davon, unwissende Hochschulabsolventen mit fingierten Einladungsschreiben zu attraktiven Vorstellungsgesprächen in die Irre zu locken? Nein, das war absurd, befand Sarah, als sie zurück auf den sonnenbeschienenen Straßen Invergordons war. Sie musste einfach ein Telefon finden und diesen Morrow anrufen - immerhin stand da eine Durchwahl auf dem Briefpapier.
    Fraglos klärte sich die ganze Sache dann als dummes Missverständnis auf.
    Nur wo fand man im Zeitalter der Mobiltelefonie noch einen öffentlichen Fernsprecher?
    Orientierungslos bog sie um eine Straßenecke. Irgendwo dort vorne musste die Innenstadt des kleinen Küstenortes liegen - und in ihr fanden sich sicherlich Pub-Besitzer, die ein Telefon hinter dem Tresen hatten und einer Dame in Nöten einen kleinen Gefallen nicht verweigerten.
    Als sie aufblickte, fand sie sich in einer kleinen Hintergasse wieder, die aussah, als

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