093 - Das Hotel der lebenden Leichen
zehn Minuten fällte der Vorhang. Wollen wir noch einen Blick hineinwerfen.«
Frank folgte ihr über gewundene, samtbelegte Stufen, entlang an den mit verschnörkelten Motiven ausgeschmückten Wänden der Wandelgänge in das Dunkel einer Loge. In das hellerleuchtete Bühnenbild schoben sich die Rücken der an der Logenbrüstung Sitzenden.
Virginia Thompson, Henrys Partnerin, spielte gerade eine ihrer beim Publikum beliebten, herzzerreißenden Szenen, wobei die Zuschauer vor Rührung weinten, und sich die Kollegen am liebsten die Ohren zugehalten hätten.
Frank hörte Henry etwas erwidern.
Seine Stimme, seine Gesten, seine ganze Persönlichkeit strömte ein Fluidum aus, das die atemlos Lauschenden im Parkett und auf den Rängen in seinen Bann zog.
Lorna machte, nachdem sie eine Weile zugehört hatte, eine Bewegung des Entsetzens.
»Lieber Himmel«, murmelte sie leise.
»Was ist denn los?« fragte Frank erschrocken.
»Ein Glück, daß dies die letzte Vorstellung ist«, flüsterte sie. »Sie schwimmen schon die ganze Zeit... da, jetzt hängt Henry schon wieder...«
»Was tut Henry? Er schwimmt? Er hängt?« Frank verstand nicht.
»Ja, so sagt man. Er kann seinen Text nicht.«
»Nachdem er mehrere Monate Abend für Abend das Stück gespielt hat, kann er den Text immer noch nicht?« erkundigte sich Frank ungläubig.
»Gerade weil er es schon so lange spielt, kann er den Text nicht mehr. Er könnte die Sätze im Schlaf herunterleiern. Aber es hängt ihm schon zum Hals heraus, und um ein bißchen Abwechslung hineinzubringen, fängt er an zu improvisieren oder Mätzchen zu machen. Und bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit muß er lachen. Da, — schau nur wie er grinst. Ist das nicht schrecklich?«
Frank Connors sah nichts Besonderes, für ihn unterschied sich diese Vorstellung in keiner Beziehung von den anderen. Aber er erfaßte zum ersten Mal, wie schwer es für die Schauspieler sein mußte, Abend für Abend dem Publikum die gleichen Gefühle und Erregungen vorzutäuschen.
»Na, ja. Morgen abend spielt Henry nur mit dir«, entfuhr es Frank etwas zu laut.
»Pst... Psst!«
In die bisher regungslosen Rücken an der Logenbrüstung kam Leben. Sie drehten sich empört um, und aus noch empörteren Augen flogen zornige Blicke zu dem Störenfried.
»Komm, Frank«, flüsterte Lorna leise, und zog den Reporter mit sich fort.
Sie führte ihn an den Logen entlang — immer gefolgt von den wütenden Blicken der gestörten Zuschauer.
Henry Danforths Garderobe war leer. Sie glich mit den Polstermöbeln fast einem geräumigen, allerdings nicht sehr luftigen Hotelzimmer. Nur der mit Schminknäpfen bedeckte Toilettentisch und die auf den Spiegel konzentrierte Beleuchtung wiesen auf den besonderen Zweck des Raumes hin. Zwischen den Schminkutensilien auf dem Toilettentisch stand Henry Danforths Maskottchen, ein Totenschädel, der Lorna und Frank aus seinen hohlen Augen anstarrte.
»Setz dich, mein Guter«, forderte Lorna den Reporter auf und ließ sich selber in einen Sessel sinken.
Frank rückte einen Sessel neben sie, und setzte sich ebenfalls.
»Morgen fahrt ihr beiden Glücklichen also in die Ferien. Wohin geht es denn? In irgendein kleines Nest an der Ostküste, stimmt’s?«
»Ja«, bestätigte Lorna Danforth. »Henry hat schon Hotelzimmer bestellt. Er will einmal so richtig seine Ruhe haben. Er meint...«
»Guten Abend, ihr beiden«, unter-brach sie Henry Danforth von der Garderobentür her. Er kam heran, gab Lorna einen Kuß und schüttelte Frank die Hand.
Danforth trug noch das Kostüm des dritten Aktes, Frack, Abendmantel und glitzernde Orden um den Hals. Er war ein gutaussehender Mann in den besten Jahren. Sein dunkles Haar war fest an den schmalen Kopf gebürstet. Frank Connors hatte erwartet, den Freund erschöpft und ausgepumpt zu finden. Statt dessen zeigte er sich angeregt und gutgelaunt. Wie viele Schauspieler lebte er nach Schluß der Vorstellung auf. Die Anstrengung war eben zu groß um mit dem Fallen des Vorhangs abzuklingen.
»Auf in den Geisterclub«, rief Danforth laut.
Frank Connors betrachtete ihn breit grinsend.
Aus der Nähe, und ohne die Wirkung der grellen Bühnenbeleuchtung wirkte Henry Danforths • Schminke grotesk. Um so mehr, als sich der bräunliche Teint, die rot getönten Backenknochen, die blau beschatteten Lider und die mit dicken schwarzen Strichen nachgezogenen Brauen stark von dem natürlichen Lächeln Henrys brauner Augen abhoben.
»Wenn du so gehst wie du
Weitere Kostenlose Bücher