093 - Das Hotel der lebenden Leichen

Bläulich weiß schimmerten die Knöchel seiner gewaltigen Faust, die eine sechsschwänzige Peitsche hielt.
    Obwohl die Luft warm und stickig über ihm lag, fröstelte der Steuermann.
    »Wer ... wer sind Sie?« würgte er hervor.
    Der unheimliche Fremde rührte sich noch immer nicht. Es schien, als flöge ein Lächeln über seine harten Gesichtszüge, als er die Angst seines Gegenübers sah.
    »Mein Name wird dir nichts sagen. Ich bin nun schon fast zweihundert Jahre tot«, kam wieder die hohle Stimme.
    John Mallory fühlte bei diesen Worten den Boden unter seinen Füßen wanken. Leichenblässe bedeckte sein Gesicht.
    »Das, das ist doch nicht möglich«, keuchte er.
    Mit einer verächtlichen Handbewegung wischte der sitzende Mann seinen Einwand fort.
    »Du wirst mittlerweile festgestellt haben, daß diese Insel keine gewöhnliche ist. Es ist die Insel des Satans. Sie steigt alle zweihundert Jahre nach menschlicher Zeitrechnung für wenige Stunden aus dem Ozean. Die Schiffe, die zu diesem Zeitpunkt in der Nähe sind, zerschellen und die Menschen, die die Insel betreten, sind verloren. Wer aber wie Du in diesen Raum gelangt, hat die Aufgabe, sie wieder zu verlassen und in die Welt zurückzukehren. Du wirst als Sendbote des Herrn dieser Insel über ungeahnte Kräfte verfügen«, fuhr er fort. »Der Tod, der dein Begleiter sein wird, wird dich verschonen. Du bist praktisch unsterblich, es sei denn, man schlägt dir den Kopf ab. Dann aber mußt du genau wie ich auf diesen Steinen darauf warten, daß ein lebender Mensch dich ablöst.«
    Ungläubig hatte John Mallory den Worten des Piraten gelauscht. In seinem Hirn purzelten die Gedanken wild durcheinander.
    Gewiß, die Insel und alles um ihn herum war irgendwie irreal, aber die Worte des Mannes da vor ihm schienen dennoch reichlich phantastisch.
    »Sie sagten etwas von Kopf abschlagen, soviel ich sehe, haben Sie Ihren aber noch auf den Schultern«, murmelte er schwach.
    »Glaubst du?«
    Plötzlich kam Leben in die bis dahin reglose Gestalt. Während sie sich langsam erhob, löste sich mit einem Ruck der Kopf vom Rumpf, rutschte an ihm herab und schlug dumpf polternd auf den Boden.
    John Mallory stöhnte entsetzt auf.
    Mit eckigen Bewegungen kam der menschliche Torso auf ihn zu.
    Langsam, unendlich langsam hob er die Faust, die die Peitsche hielt.
    »Auf diese Art empfängst du deine Macht, und genauso wirst du dir deine Helfer schaffen«, klang es von dem am Boden liegenden Kopf des Piraten.
    Der Steuermann stand wie gelähmt. Er hörte ein pfeifendes Geräusch und spürte einen scharfen Schmerz über sein Gesicht und seine Brust zucken.
    Er sank in die Knie, und während pausenlos erbarmungslose Schläge auf seinen Körper klatschten, drangen dämonische Kräfte in ihn ein.
    Knurrend richtete er sich auf und riß die schwingende Peitsche an sich.
    Mit einem einzigen Hieb streckte er den plötzlich zur Bewegungslosigkeit erstarrten kopflosen Rumpf zu Boden.
    »Da, du Hund, der Herr bin jetzt ich!« brüllte John Mallory.
    Der auf dem Boden liegende Körper zerfiel in Sekundenschnelle. Schon nach wenigen Augenblicken lag ein bleiches Gerippe neben dem Kopf, an dem jetzt auch kein Fleisch mehr war.
    Grotesk, noch zur Hälfte von dem blutroten Tuch bedeckt, grinste der Totenschädel zu ihm hinauf.
    John Mallory wandte sich achselzuckend um.
    Vor ihm lag eine quadratische, hellschimmernde Öffnung. Er kroch hindurch und blickte sich mit brennenden Augen um.
    Wasser bedeckte fußhoch den Boden der Insel. Es schäumte und quirlte wild und schien stetig zu steigen. Schon nach wenigen Augenblicken umspülte das. Wasser John Mallorys Knie.
    Langsam watete er vorwärts. Er blieb vor der nächststehenden Steinsäule stehen und blickte mit verkniffenen Augen hinauf.
    Die steinerne Gestalt hatte Kapitän Hursts Gesicht. Auch die nächste steinerne Figur trug ein bekanntes Gesicht. Es war das des Bootsmanns, den er nie hatte leiden können.
    Ein Blick in die Runde zeigte ihm, daß alle Besatzungsmitglieder der Betsy Ann zu Steinsäulen erstarrt und vom Wasser schon halb umspült zwischen den Säulen standen, die er vorher schon gesehen hatte.
    »He, He. Bleibt nur schön hier. Ich werde mich in Sicherheit bringen.« John Mallory grinste teuflisch.
    Keine Spur eines menschlichen Mitgefühls steckte mehr in ihm, nur noch dämonischer Haß auf alles was lebt.
    Das Wasser umspülte nun schon seine Brust. Instinktiv machte er Schwimmbewegungen. Er erreichte einen der Hügel und kletterte