093 - Der Geist im Totenbrunnen
revidieren.“
„Was soll ich tun? Hingehen und Carrington umlegen?“ fragte er barsch.
„Wir müssen ihm eine Falle stellen“, sagte Daphne und holte tief Luft. „Wenn er sich darin verfängt und zeigt, daß er unser Feind ist, bleibt uns keine Wahl, Harry. Dann müssen wir versuchen, ihn zu töten.“
Bradford brachte Chester nach Marhill Place. Diesmal fragte der Taxifahrer gar nicht, ob er warten solle. Er ließ sich am Ziel entlohnen und fuhr zurück nach Hillory Village.
Leroy ging auf das Portal von Marhill Place zu und lächelte verbindlich, als es geöffnet wurde, noch ehe er den Besitz erreicht hatte.
Daphne stand im Türrahmen. In dem kniefreien, schwarzen Kleid wirkte sie jung und zerbrechlich – aber auch attraktiv und sexy.
Es war elf Uhr vormittags, ein sonniger, beinahe schwüler Tag, der das Atmen schwer machte und Sehnsucht nach schattiger Kühle erweckte. Marhill Place, mit seinen dicken Mauern und den hohen Räumen, hielt mühelos die Außentemperatur ab, und Leroy war froh, daß Daphne ihn sofort ins Wohnzimmer führte.
„Als ich Bradfords Klapperkasten hörte, war ich gerade in der Diele“, sagte sie. „Ich dachte mir gleich, daß Sie es sein würden. Kann ich Ihnen einen Tee anbieten?“
„Danke, nein, ich komme gerade vom Frühstück. Sie sehen blaß aus, Madame. Blasser als gestern. Fühlen Sie sich nicht wohl?“ erkundigte er sich.
„Ich habe schlecht geschlafen“, erwiderte sie. „Ich hatte scheußliche Träume. Alpträume. Kennen Sie so etwas?“
„O ja“, sagte er und schaute sie voll an. „Das kenne ich. Ich leide sehr darunter.“
„Setzen wir uns doch“, meinte sie und nahm in einem der alten, bequemen Sessel am Kamin Platz. Er ließ sich ihr gegenüber nieder – in seinem angestammten Ohrensessel.
„Sie interessieren sich also für Marhill Place“, sagte sie und blickte ihm geradewegs in die Augen.
Sie ist schöner, als ich sie in Erinnerung behalten habe, schoß es Leroy durch den Kopf. Er spürte einen feinen Schmerz in seinem Inneren, ein Ziehen an seinem Herzen, das sich in Daphnes Nähe verstärkte.
„Ja. Ein interessanter Wohnsitz. Geschichtsträchtig. Ich habe da übrigens ein phantastisches Erlebnis gehabt – es hängt mit Marhill Place zusammen.“
Er berichtete ihr, was Jameson ihm vorgeworfen hatte und was am Ende daraus geworden war.
„Haben Sie eine Erklärung dafür?“ fragte Daphne.
„O ja“, nickte er. „Jemand hat das Bild gestohlen und danach Gewissensbisse bekommen. Er hat es zurückgebracht. Eine andere Erklärung gibt es nicht.“
„In dieser Gegend soll es Geister geben“, sagte sie. In ihrer Stimme war kein Spott und sie war bemüht, seinen Blick mit ihren großen, plötzlich bohrend und schwermütig anmutenden Augen festzuhalten.
Er lachte leise. „Glauben Sie an Gespenster?“
„Wenn man in einem solchen Haus wohnt, muß man sich mit ihnen arrangieren.“
„Ist das Ihr Ernst?“
„Aber ja“, sagte sie. „Ich träumte zum Beispiel heute nacht, ich würde aus dem Bett gehoben und in den Totenbrunnen geworfen.“
„Ach so, der Brunnen im Garten!“
„Sie kennen ihn?“ fragte Daphne rasch.
„Natürlich. Er ist ein Stück Geschichte, Dorfgeschichte, wenn man so will.“
„Er wird in keinem Buch erwähnt.“
„Wirklich? Aber ich habe von ihm gehört…“
„Durch wen?“
„Das ist mir entfallen“, sagte er.
Daphne erhob sich mit klopfendem Herzen. Das ist der Beweis, dachte sie, trat an den Kamin und steckte sich eine Zigarette an. Ihre Hand zitterte. Sie zwang sich zur Ruhe. Nein, es war sinnlos, sich aufzuregen oder in Panik zu verfallen. Vielleicht hatte Carrington von einem Dorfbewohner gehört, was es mit dem Brunnen für eine Bewandtnis hatte…
Daphne wandte sich langsam um, sie hatte sich wieder in der Gewalt, aber als sie sah, wer jetzt im Sessel saß und sie anschaute, war es mit ihrer Beherrschung vorbei.
Sie schrie gellend auf. Ihr war, als müßte sie zu Boden stürzen. Sie klammerte sich am Kamin fest, obwohl sie sich eigentlich wünschte, von einer erlösenden Ohnmacht umfangen zu werden.
Carrington war aus dem Sessel verschwunden.
Statt dessen saß Leroy dort.
Er trug Carringtons Sachen. Aber das war es nicht, was Daphne fast zum Wahnsinn trieb.
Leroy schaute sie an, als begriffe er nicht, weshalb sie sich vor ihm fürchtete und zitterte.
Sie starrte auf sein Gesicht mit der Schläfenwunde, mit diesem gräßlichen Blutrinnsal, das sich bis an das Kinn
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