093 - Der Geist im Totenbrunnen
hinabzog.
„Was ist mit Ihnen?“ fragte Leroy. Er ahnte, daß sich sein Aussehen wieder verändert hatte.
Daphne brach zusammen. Sie blieb bewußtlos vor dem Kamin liegen.
Leroy stand auf. „Sind Sie hier, Carinius?“ rief er.
Niemand antwortete.
Leroy lief in die Küche, hielt ein Tuch unter den kalten Wasserstrahl, ging damit ins Wohnzimmer zurück und legte es auf Daphnes Stirn.
Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, überlegte er. Warum noch warten? Du kannst sie erwürgen…
Chester stand auf, schwitzend. Jetzt war er es, der am ganzen Leib zitterte. Rache war etwas, das man sich mühelos schwören, aber nicht so einfach ausführen konnte. Daphne war schließlich seine Frau gewesen. Sie hatte ihm Liebe und tiefe Zuneigung geschenkt und den eigentlichen Inhalt seines Lebens dargestellt.
„Ich muß ihr eine Chance geben“, hörte er sich murmeln.
Er ertappte sich bei dem törichten Versuch, Daphne reinzuwaschen. Er hatte den Wunsch, alle Schuld auf Harry zu schieben und den ehemaligen Freund zum raffinierten Verführer, zur treibenden Kraft, zum ruchlosen Mörder zu stempeln.
War das nicht Selbstbetrug? Daphne war eine kluge und selbständige Frau. Wenn sie sich an dem Verbrechen beteiligt hatte, dann mit klarem Verstand.
Daphne kam zu sich. Sie hob verwirrt die Lider, blickte in Carringtons Augen, setzte sich verwundert auf und fragte kaum hörbar: „Was ist geschehen?“
Er half ihr auf die Beine und zitterte leicht, als er sie berührte. Daphne! Sie war so reizvoll und begehrenswert wie eh und je…
Sie setzte sich. Plötzlich war die Erinnerung wieder da – der Anblick von Leroys Gesicht, entstellt von dieser schrecklichen Einschußwunde…
Sie starrte ihm in die Augen. „Du bist Leroy!“ hauchte sie.
Wahnsinn, so etwas zu sagen, dachte sie, aber sie konnte in diesem Moment nicht anders, sie mußte der spontanen Gefühlsregung folgen.
Leroys Herz machte einen jähen Sprung. Nach seinem Erwachen im Hotel hatte er davon geträumt, sich Daphne zu eröffnen, aber jetzt bezweifelte er plötzlich, ob dieser Weg gangbar und empfehlenswert war. Er überwand die Zweifel und stellte sich dann doch dem Zwiegespräch zwischen Leben und Tod. „Ja, ich bin Leroy“, sagte er.
„Warum bist du wiedergekommen?“ fragte Daphne erschauernd.
Er gab darauf keine Antwort und fragte statt dessen: „Woran hast du mich erkannt?“
„Einen Moment lang trugst du dein altes Gesicht“, sagte Daphne zitternd. „Aber es war entstellt durch eine Schläfenwunde …“
„Ich bin zum Spielball dunkler Mächte geworden“, erklärte er. „Ich habe keine Gewalt über mein Sein, mein Aussehen, meine Ziele…“
„Wer hat schon Gewalt über sich?“ fragte Daphne bitter.
„Du hattest sie jedenfalls nicht!“
„Mir ist, als ob ich träume.“
„Mir ergeht es nicht anders“, meinte er, „oder glaubst du, es sei einfach, an diesen Platz zurückzukehren, in der Maske eines Fremden, und doch nur das zu spüren, was ich die Summe meiner Erinnerung nennen möchte?“
„Wir sind verdammt, Leroy.“
„Wer hat auf mich geschossen?“
„Das war ich“, sagte sie zögernd und kaum hörbar. Trotzdem klang es als habe sie nur darauf gewartet, dieses Geständnis loszuwerden.
„Du?“ murmelte er fassungslos.
Seine Hoffnungen fielen in sich zusammen, er spürte nur noch den Haß und die Bitterkeit, die ihn bereits im Hotel und später auf Marhill Place erfaßt hatten.
„Harry wollte es tun“, meinte Daphne schwer atmend, „aber ich fand, daß das nicht fair gewesen wäre. Diesen Bruch mußte ich schon selbst vollziehen.“
„Fair?“ echote er ungläubig. „Die Ermordung deines Mannes?“
„Ich dachte nur noch an Harry. Ich liebe ihn.“
„Wie lange schon?“
„Ist das noch wichtig? Du mußt uns unseren Frieden lassen, Leroy“, sagte sie.
Er starrte ihr in die Augen. „Du kannst nicht im Ernst erwarten, daß ich das Verbrechen sanktioniere.“
„Du mußt es tun, Leroy. Mir zuliebe!“
„Dir zuliebe“, höhnte er. „Deine Logik ist verblüffend! Ja, ich liebte dich, liebte dich über alle Maßen – aber du hast diese Liebe zerstört. Durch einen Mord! Jetzt wirst du die Folgen deines Handelns zu tragen haben!“ Er lachte plötzlich.
Daphne riß die Augen auf. „Warum lachst du?“
„Ich stelle mir gerade vor, was sein wird, wenn du mit Harry darüber sprichst. Er wird glauben, daß du den Verstand verloren hast und dich zu einem Psychiater bringen, vielleicht sogar in eine
Weitere Kostenlose Bücher