093 - Der Geist im Totenbrunnen
hatte.
Harry war ein guter Liebhaber, wirklich großartig im Bett – aber wenn sie ihn aus ihrer momentanen Verfassung heraus mit kritischer Distanz betrachtete, mußte sie zugeben, daß er Leroy nicht das Wasser reichen konnte.
„Mein Gott“, flüsterte sie und begann am ganzen Leibe zu zittern. Wie hatte sie es nur fertigbringen können, sich in diesen Strudel von Blut und Verbrechen reißen zu lassen?
Es drängte Daphne, zurückzukehren, doch sie zwang sich dazu, ihr Besuchsprogramm voll zu erfüllen. Sie ging zwar abends nicht mehr aus, weil sie befürchtete, gesehen zu werden, aber sie tätigte immer noch tagsüber Einkäufe und ließ es sich in guten, teuren Restaurants schmecken. Sie bedauerte, nicht ohne weiteres an Leroys Geld heranzukommen, sonst hätte sie vermutlich den Versuch unternommen, mit dem Vermögen einfach unterzutauchen.
An einem Sonnabend mittag fuhr sie mit dem Zug nach Hillory Village zurück. Um diese Zeit wirkte der Bahnhof wie ausgestorben. Daphne passierte die Sperre, betrat eine Telefonzelle und versuchte Bradford zu erreichen. Er meldete sich nicht. Möglicherweise war er unterwegs, oder er nahm um diese Zeit keine Anrufe und Bestellungen entgegen, weil er seine Mittagsruhe zu halten wünschte.
Der Bahnhof lag etwas außerhalb des Ortes. Daphne hatte keine Lust, in der prallen Mittagssonne mit dem Koffer loszumarschieren, aber sie wollte auch nicht auf einer harten Holzbank im Bahnhofsgebäude warten, bis sich jemand ihrer erbarmte. Nach kurzem Nachdenken rief sie Harry an, der heute keine Sprechstunde hatte.
„Hallo, Harry“, sagte sie. „Ich bin’s, Daphne. Ich bin gerade aus London zurückgekommen. Bradford ist nicht zu erreichen. Würdest du mir bitte den Gefallen tun, und mich abholen?“
„Aber selbstverständlich“, erwiderte er. „Ich bin in zehn Minuten bei dir.“
Er legte auf. Daphne ließ stirnrunzelnd den Hörer sinken. Sie fand, daß seine Stimme verändert geklungen hatte, irgendwie distanziert. Keine Spur von Freude über ihre Rückkehr war darin gewesen…
Eine Viertelstunde später traf Harry ein. Er lächelte nervös, als er sie begrüßte und vermied es, sie in die Arme zu nehmen. Er trug ihren Koffer zum Wagen. Sie setzten sich hinein und fuhren los.
„Was gibt es Neues?“ fragte Daphne und schaute ihn an.
Seine blassen Gesichtszüge waren vom Streß gezeichnet. Erschüttert stellte sie die Veränderung fest, die binnen weniger Tage mit ihm vorgegangen war.
„Sie haben das Grab geöffnet, den Sarg“, sagte er. Seine Stimme klang seltsam rauh.
„Und?“
Er schaute sie an, ganz kurz nur. Dann sagte er: „Der Sarg war leer. Leroy ist daraus verschwunden.“
„Verschwunden?“ fragte sie fassungslos und wußte nicht, ob sie über die Nachricht entsetzt oder beglückt sein sollte. Wenn es keine Leiche gab, hatte die Polizei auch keine Möglichkeit, den angeblichen Selbstmord zu widerlegen…
„Ja“, nickte Harry. „Er hat mich in der vergangenen Nacht besucht.“
Daphne fühlte, wie ihre jäh aufsteigende Angst ein Gefühl leichter Übelkeit in ihr erzeugte. „Du mußt anhalten, sofort“, bat sie mit bebender Stimme. „Ich kann mich in dieser Verfassung nicht im Ort zeigen…“
„Wir sind bereits in Sichtweite der ersten Häuser“, sagte er und verlangsamte die Fahrt. „Es würde auffallen, wenn wir auf offener Straße, mitten in der prallen Sonne, stehenbleiben würden.“
„Okay, dann fahre weiter, aber möglichst rasch… er hat dich besucht? Leroy war bei dir?“
„Ja.“
Obwohl Daphne sich vor den Einzelheiten des Geschehens fürchtete, sagte sie: „Spanne mich nicht auf die Folter! Was wollte er?“
„Du weißt doch, was er will. Rache!“
„Er wird uns töten“, sagte Daphne.
„Wir sind schon so gut wie tot“, meinte Harry O’Neill bitter. „Ich brauche uns nur anzusehen, um zu spüren, daß wir auf dem besten Wege sind, den Kampf zu verlieren.“
„Wenn wir fest zusammenhalten, wird er uns nicht besiegen!“ sagte Daphne, aber sie fühlte, daß ihre Worte kaum mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen waren.
„Ich wachte nachts auf, in Schweiß gebadet“, erzählte Harry O’Neill. Er fuhr jetzt sehr schnell, viel schneller, als es das Tempolimit erlaubte. Seine Hände hielten das Lenkrad so fest umspannt, daß die Knöchel weiß und spitz hervortraten. Er will uns umbringen, schoß es Daphne durch den Sinn. Er will sich den unüberwindlichen Schwierigkeiten durch Selbstmord entziehen
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