0932 - Das 14. Siegel
Tulpenlampe verlieh seinem Gesicht eine unnatürliche Blässe, die ihm aber nichts seines guten Aussehens raubte.
Anka rutschte hin und her. Sorgfältig legte sie sich die Worte zurecht und verwarf sie doch wieder.
Aus dem Radio erklang leise I'm a fool to want you von Frank Sinatra. Da konnte Anka dem guten Frankie-Boy aus ganzem Herzen zustimmen. Sie starrte das Mosaikmuster des Nierentischchens an und konzentrierte sich erneut. Sie musste es ihm sagen! Jetzt!
»Es ist so«, begann Anka und…
... verblasste unter der fürchterlichen Qual. Der Druck auf dem Hals blieb, der Druck von Krychnaks Hand. Doch nun mischten sich noch andere Schmerzen darunter. Und Trauer. Gebrochene Herzen, verschmähte Liebe. Da war noch mehr, musste noch mehr sein, denn plötzlich ...
... schreckten die Peters-Zwillinge auf ihren Stühlen hoch und rangen nach Luft. Sie würgten, husteten, keuchten.
Instinktiv griff sich Monica an den Hals, doch natürlich war von Krychnaks Klaue nichts zu spüren.
Die Schwestern drehten sich zu Rhett und Dylan um. »Das war heftig. Wir haben gesehen…«
»Wir auch«, unterbrach Dylan sie. »Ihr braucht nichts zu erzählen. Wir haben alles miterlebt.«
Uschis Augen weiteten sich. »Was? Wie ist das möglich?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube, dank Ankas magischem Potenzial waren ihre Gedanken so - ja, kräftig, dass sie bis zu uns drangen. Wie bei einem zu lauten Radio aus der Nachbarwohnung.«
»Wobei eure Köpfe die Nachbarwohnung sind«, ergänzte Rhett.
Dylan stand aus dem Sessel auf und streckte sich. »Aber was genau haben wir eigentlich gesehen? Warum war da ständig dieser Schmerz?«
Monica rieb sich die Augen. Die letzten Minuten hatten wahnsinnig viel Kraft gekostet. »Ich glaube, dass Anka all die Schmerzen ihrer Verletzung und ihrer Heilung spürt. All die Qualen, die sie in den letzten Wochen hätte durchmachen müssen, fühlt sie nun komprimiert auf die wenigen Stunden, seit ihr Herz zu schlagen begonnen hat. Aber offenbar ist da noch mehr. Es fühlt sich an wie der gesamte Schmerz ihres Lebens. Deshalb die Schreie. Ihre Seele windet sich vor Pein.«
»Kann sein«, meinte Dylan. »Sorry, Leute, haltet mich nicht für unterbelichtet. Aber wann spielte sich diese längere Szene eigentlich ab?«
»Woher sollen wir das wissen?«, fragte Uschi. »Da war nirgendwo ein Kalender oder so etwas zu sehen.«
»Es muss aber lange her sein.« Die Ringe unter Rhetts Augen hatten eine Tiefe erreicht, dass man einen Kleinwagen darin hätte parken können. Er gähnte herzhaft. »Auf jeden Fall hatte Krychnak noch keine gespaltene Lippe! Ich schätze mal, noch vor Logans Geburt. Also vor zweitausend Jahren.«
»Echt?« Dylans Augen weiteten sich. »Ich hab ihn mit gespaltener Lippe gesehen.«
»In unserer - Vision hatte er auch intakte Lippen«, sagte Uschi. »Ich denke, dass jeder von uns seine eigenen Erfahrungen und Interpretationen in die Erinnerungen eingebaut hat. Dadurch weichen sie in Details voneinander ab.«
»Akzeptiert«, sagte Dylan. »Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum ich bei Ankas… oder Kathrynes Mutter eine Armbanduhr gesehen habe.«
»Vermutlich. Es kann aber auch sein, dass einzelne Elemente ihrer Erinnerung durcheinandergeraten und sich zu neuen Bildern vereinen. Ich würde dem keine allzu große Bedeutung beimessen. Wichtig ist, dass wir alle im Grundsatz das Gleiche gesehen haben.«
»Na schön, ihr seid hier die Profis.« Dylan setzte sich. »Jetzt haben wir zwar eine Vermutung, was Ankas Qual auslöst, aber viel weiter hat uns das nicht gebracht. Was machen wir jetzt?«
Er sah in drei müde, ratlose Gesichter.
***
Mit der Katze auf dem Arm trat Zamorra aus den Regenbogenblumen. Er fand sich an einem Ort wieder, den er noch nie zuvor gesehen hatte.
Er war in einer Höhle gelandet. Vielleicht zehn Meter hoch und zwanzig Meter im Durchmesser. Die unregelmäßigen Felswände schimmerten bläulich und sorgten für eine spärliche Beleuchtung. Zamorra drehte sich zu der Blumenkolonie um. Sie wuchs in einer kleinen Ausbuchtung. Wie sie auf dem Steinboden Halt finden und gedeihen konnten, war ihm ein Rätsel, aber sicher nicht das vordringlichste.
Etwa in der Mitte der Höhle spannten sich zwischen der Decke und dem Boden vier armdicke Felsstreben, als ob Stalaktiten und Stalagmiten zusammengewachsen seien. Zamorra ließ die Katze vom Arm, die sofort einen Buckel machte und sich ausgiebig streckte. Dann setzte sie sich hin, leckte sich einmal an
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