0932 - Das 14. Siegel
weitergerissen. Eindrücke überfluteten sie. Zu viele für ein einziges Leben einer jungen Frau. Epochen rasten an ihnen vorbei. Kriege, Gewalt, Tod. Kämpfe gegen Kreaturen der Hölle und sinnlose Morde an unschuldigen Menschen. Liebe und Hass. Immer wieder Schmerz. Weiter zurück. Der Sog hatte sie gepackt, ließ sie nicht mehr los. Tiefer und tiefer in die Vergangenheit. An den Beginn, auf eine weitere Insel der Ruhe. Zu einem Mädchen namens ...
***
»Kathryne!«
Griseldas Stimme riss das Mädchen aus ihren Tagträumen. »Ja, Mutter?«
»Du darfst den Liebestrank nicht so hastig rühren, wenn er gelingen soll!«
Das Mädchen sah an seinem ausgestreckten Arm entlang und entdeckte darin einen langen hölzernen Löffel, dessen unteres Ende in einer tief grünen Flüssigkeit seine Runden zog. Der Trank blubberte in einem großen Kessel vor sich hin, der über der offenen Feuerstelle ihrer Hütte hing. Der aromatische Geruch der Kräuter holte Kathryne endgültig in die Wirklichkeit zurück. Sie war nicht die Frau eines reichen Herrschers mit vielen Ländereien, sie besaß kein stolzes weißes Ross, auf dessen Rücken sie durch die Reihen ihrer sie liebenden Untertanen ritt. Sie war nur die siebzehnjährige Tochter der Witwe Griselda, mit der sie in einer kleinen Hütte am Fuße des Felsmassivs Ben Attow in den Highlands lebte.
Nein, nicht der Witwe Griselda, sondern der weißen Hexe Griselda, wie die Leute aus dem Dorf sie oft nannten.
»Aber Mutter! Der Liebestrank hat doch ohnehin keine Wirkung!«
Griselda kicherte und Fältchen umspielten ihre Augen. »Das weißt du, mein Kind, und das weiß ich. Aber der alte Lachlan weiß es nicht. Wenn du so hastig rührst, wird die Seele des Suds bitter. Aber ein Liebestrank muss süß schmecken! Außerdem beeinflusst er den Körpergeruch, was der alte Lachlan dringend nötig hat. Und wir haben das Fleisch nötig, das er uns als Gegenleistung dalassen wird. Es wird einen harten Winter geben!« Sie sah auf ihre Armbanduhr und runzelte die Stirn. »Er wird bald hier sein! Wir müssen uns beeilen.«
Also rührte Kathryne weiter, fragte sich, wie sie sich beeilen sollte, ohne dabei zu schnell zu rühren, und versuchte, sich zurück auf den Rücken des Rosses zu träumen. Heraus aus ihrem abgetragenen erdfarbenen Kittel, hinein in die prächtigsten Kleider. Es gelang ihr nicht. Stattdessen musste sie an ihren Vater denken. Er war vor über zehn Sommern bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen. Was genau geschehen war, hatte ihre Mutter ihr nie erzählt. Wie sie sagte, schmerze es sie zu sehr. Kathryne hatte nur noch verschwommene Erinnerungen an ihren Vater. Aber die waren warm und herzlich. Sie sah einen bärtigen Mann mit einer tiefen Stimme und einem noch tieferen Lachen vor sich, der sie in die Luft warf, auffing und wieder in die Luft warf. Dabei rief er »Flieg, meine kleine Taube, flieg!« und lachte sein samtiges, behagliches Lachen.
»Hast du gestern noch den Blinzelsprung geübt?«, fragte Griselda.
Das hatte Kathryne vergessen! Obwohl Mutter es ihr aufgetragen hatte. Sie spürte, wie ihre Wangen sich rot färbten. Die Hitze der Scham stieg in ihr auf.
Griselda seufzte. »Ach Kind, wenn du nicht übst, wirst du ihn nie beherrschen.« Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Und rühr nicht so hastig!«
Die Hitze auf Kathrynes Wangen nahm noch zu. In ihrer Verlegenheit hatte sie tatsächlich schon wieder angefangen, den Löffel zu schnell kreisen zu lassen. »Aber Mutter! Meine Kräfte sind nun mal nicht so stark wie deine. Ich kann mich höchstens zwei oder drei Schritte weit blinzeln und bin danach fürchterlich erschöpft.«
»Genau deshalb sollst du üben!«
Wozu denn? Wenn ich die drei Schritte zu Fuß viel schneller und ohne Erschöpfung zurücklegen kann!
»Was hast du gesagt?« Griseldas Stimme klang scharf und tadelnd.
Hatte sie etwa laut gesprochen? O nein! »Nichts, Mutter. Gar nichts.«
Griselda öffnete den Mund zu einer Erwiderung. In diesem Augenblick flog die Tür auf und ließ einen Schwall kalter Luft ein.
Der alte Lachlan war zu früh dran! Und so einen Auftritt würde Mutter ihm bestimmt nicht durchgehen lassen. Fleisch hin oder her! Kathryne wandte den Kopf zur Tür und erstarrte. Es war nicht Lachlan, der auf der Schwelle stand und sie mit einem hinterhältigen Grinsen musterte. Kathrynes Bewegungen wurden langsamer und schließlich kam der Löffel im Sud sogar zur Ruhe. Und Griselda sagte nichts dagegen!
Kathryne hatte den
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