0933 - Die Horror-Mühle
und die Kinder in Gefahr sah.
Auch wenn sie sich hatte gehenlassen, auch wenn sie am frühen Morgen schon den Alkohol kippte, auch wenn sie eine Alkoholikerin war, aber so tief gesunken, daß sie ihre Kinder vergessen konnte, das war sie nicht. Diese Stimme war einfach zu eindringlich gewesen, als daß Helga sie hätte vergessen können, und sie wußte plötzlich, daß sie etwas unternehmen mußte. Daß es an ihr persönlich lag, wenn sie Silvia uns Jens retten wollte. Um sie ging es jetzt.
Vor ihr stand die Flasche. Sie war beinahe noch zur Hälfte mit dem bräunlichen Weinbrand gefüllt. Natürlich lockte sie. Ein kleiner Schluck nur, ein letzter und dann…
Helga knirschte mit den Zähnen.
»Nein!« keuchte sie. »Nein und nochmals nein. Das werde ich nicht tun.«
Ich werde mich zusammenreißen. Ich muß an die beiden denken. Ich lasse die Flasche stehen.
Oder?
Immer wieder schielte sie hin, aber sie hatte ihre Arme bereits zurückgezogen und die Hände gegen die Tischkante gestemmt, um sich so in die Höhe drücken zu können.
Sie zitterte. Kraftlos fühlte sie sich, aber sie ließ sich diesmal nicht hängen und stand auf.
Der Atem floß schwer aus ihrem Mund. Die Augen waren weit geöffnet und hatten einen starren Ausdruck hinterlassen. Trotz aller Mühen war sie doch zu schnell aufgestanden und spürte den Schwindel, den sie erst loswerden mußte.
»Ich packe es! Ich gebe einfach nicht auf. Ich - ich kämpfe mich durch. Ich muß an meine Kinder denken, nicht nur an mich. Alles andere ist Mist. Nur die Kinder zählen, nur die Kinder.«
Immer wieder sprach sie die Worte aus, denn sie wußte und wollte sich selbst Mut machen. Manchmal knurrte sie dabei wie ein Tier, aber sie kam auch durch und schaffte es, bis in den Flur zu gelangen.
Vorhin in der Küche hatte sie geschwitzt. Jetzt spürte sie plötzlich den Schauer der Kälte, der sie brutal überfiel und sie mit den Zähnen klappern ließ.
Immer wieder mußte sie an diesem verdammten Spiegel vorbei und erschrak über sich selbst. Daß ihr Gesicht des öfteren vom genossenen Alkohol aufgedunsen war, kam ihr bekannt vor, daran störte sie sich auch nicht. Zu dieser Stunde aber sah sie so schrecklich bleich aus. Die Gesichtshaut wirkte wie alter Käse, die Augen lagen tief in den Höhlen und waren von dunklen Ringen umgeben. Einen Glanz entdeckte sie in den Pupillen nicht, sie wirkten so schrecklich stumpf.
Dann fiel ihr ein, daß sie nur den alten Kittel trug. Sie hätte sich umziehen müssen, darauf verzichtete sie jedoch. Der in der Nähe hängende Mantel tat es auch.
Sie zerrte das Kleidungsstück vom schaukelnden Bügel und streifte es über. Nur nachlässig knöpfte sie es zu. Die Wohnungsschlüssel befanden sich in der Manteltasche. Sie hörte sie klirren.
Noch einen letzten Blick warf sie durch die offene Küchentür. Da stand die Flasche auf dem Tisch. Halbvoll war sie, und sie schien ihr zuzuzwinkern.
Nein, nicht heute. Es ging um die Kinder. Heute würde sie den Graben überspringen und nicht in ihn hineinfallen. Alles andere wäre tödlich gewesen.
Sie drehte sich etwas zu heftig um und geriet ins Wanken. Der Alkohol war noch nicht verdaut. Er wühlte noch in ihrem Körper und zeigte eine entsprechende Wirkung.
Erst Sekunden später fühlte sie sich in der Lage, die Wohnungstür zu öffnen. Noch immer leicht schwankend betrat sie den Flur. Helga Stolze wohnte mit ihren Kindern in der ersten Etage des sechsstöckigen Hauses. Sie verzichtete auf den Lift.
Das Geländer befand sich an der linken Seite. Sie hielt sich daran fest.
Die Hand faßte hart zu, als wollte sie es nie mehr loslassen. Stufe für Stufe ging sie weiter, den Blick nach vorn gerichtet. Die wackligen Beine ignorierend. Die Füße schleiften über den Boden. Sie merkte die innere Anspannung, aber sie wollte jetzt nicht aufgeben, wo sie schon mehr als die Hälfte geschafft hatte.
Weg, nach draußen! Die Kinder suchen. Nach ihnen fragen. Auf den Rummel gehen. Sich den Lärm antun, der in ihren Ohren brausen würde.
Im unteren Flur mußte sich Helga gegen die Wand lehnen. Plötzlich war sie wieder in Schweiß gebadet, und sie hoffte, daß jetzt keine Nachbarin auftauchte und dumme Fragen stellte. Helga Stolze war sowieso das Schwarze Schaf im Haus. Als Alleinerzieherin wurde man in einer Kleinstadt immer schräg angesehen.
Die hat keinen Mann! Die schafft nichts! Die lebt von unseren Steuern!
Die geht vielleicht heimlich auf den Strich. Außerdem säuft
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