0937 - Die Rückkehr des Amuletts
sich sehen konnte. Wie ein nervöser Tiger marschierte er auf und ab, den Finger ständig am Abzug. Trotzdem setzte jede raschere Bewegung des Vermummten sofort einen Schub Adrenalin in ihm frei. Und in den anderen Passagieren wohl auch. Rhett fühlte sich, als sei sein Magen ein einziger riesiger Knoten, der sich sekündlich noch mehr verhärtete.
Plötzlich kam Bewegung in die Szene. Ein weiterer der Entführer, bei dem es sich um den Anführer handeln musste, kam die breite Treppe herab. Alle Blicke richteten sich auf den unmaskierten Kerl mit den langen schwarzen Locken. Auf halber Höhe blieb der Mann stehen und ließ seinen Blick prüfend über die Passagiere gleiten. Dann ging er zwischen sie hinein. Einer seiner Männer begleitete ihn. Wer dem Lockigen im Weg stand, kassierte einen brutalen Fußtritt. Rhetts Knoten im Bauch mutierte schlagartig zum Eisklumpen, als er den Mann in seine Richtung kommen sah. Tatsächlich blieb der Gangster vor ihm stehen und musterte ihn aus Augen, in denen der junge Llewellyn bestenfalls Mitleidlosigkeit und Brutalität erwartet hätte. Doch er glaubte auch so etwas wie Angst darin zu erkennen.
»Los, du da, aufstehen und mitkommen.« Er deutete mit dem Gewehrlauf auf Rhett.
»Nein!« Lady Patricia kam geschmeidig auf die Beine. Sie krallte ihre Rechte in Rhetts Oberarm und sah dem Schwarzhaarigen, den sie um halbe Haupteslänge überragte, angstvoll in die Augen. »Was haben Sie mit ihm vor? Bitte lassen Sie den Jungen hier. Nehmen Sie lieber mich.« Sie schob sich vor Rhett.
Rossi musterte sie. Seine Mundwinkel zuckten. Blitzschnell holte er aus und schlug Patricia mit der flachen Hand ins Gesicht. Sie schrie auf und taumelte zur Seite weg. Rhetts Körper spannte sich an, er wollte seiner Mutter zu Hilfe kommen.
Im Angesicht der auf ihn gerichteten Mündung ließ er es aber.
»Scheiß Schlampe«, zischte Rossi. »Ich mag's nicht, wenn Weiber mir widersprechen. Und ich mag's gar nicht, wenn Weiber größer sind als ich. Mit dir beschäftige ich mich nachher noch. Ich hab dich jetzt auf dem Kieker. Der Junge kommt mit. Schnapp ihn dir.«
Der zweite Gangster trat hinter Rhett und drückte ihm die Mündung in den Rücken. »Los, verdammter Scheißkerl, lauf zu.«
Rhett schluckte, warf seiner Mutter noch einen verzweifelten Blick zu und zwängte sich dann durch die Menge. Sein Herz raste. Er wollte irgendetwas tun, seine Angst einfach weg denken, aber er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Was würde passieren?
»Du da kommst auch mit.« Rossi deutete auf die Verkäuferin neben Patricia.
Die wimmerte los. »Wer… ich?«, hörte Rhett sie krächzen.
»Ja, genau du. Aufstehen, los.«
»Aber… aber warum ich?«
»Steh jetzt sofort auf, oder du kannst was erleben!«, brüllte Rossi und lud drohend die Pumpgun durch.
Die Frau stand auf und setzte sich ebenfalls in Bewegung.
»Gott stehe ihnen bei«, flüsterte ein Mann. Rhett hörte die Worte zufällig. Sie versetzten ihm einen weiteren Stich. Er kassierte einen unsanften Schlag mit dem Gewehrlauf ins Kreuz. Die Gangster trieben ihn und die Verkäuferin durch das halbe Schiff auf die Freilaufplattform des Sonnendecks. Grelles Sonnenlicht empfing sie, denn der Nebel hatte sich zwischenzeitlich ganz verzogen, ein kalter Wind verfing sich in ihren Haaren und ließ sie flattern. Rhett blickte auf die dunkelblaue Fläche des Golfe du Lion. Möwen sausten knapp über dem Wasser dahin, alles wirkte so friedlich. Über ihnen kreiste ein Hubschrauber. Zuerst hörte er ihn nur. Dann sah er die Maschine in einem großen Bogen anfliegen. Sie blieb schräg vor der Fähre fast reglos in der Luft hängen. Rhett konnte sogar die Gesichter der Piloten erkennen.
»Auf die Knie!«, brüllte Rossi plötzlich. »Los, macht schon!«
Die Verkäuferin schrie und bettelte laut, als ihr bewusst wurde, was das bedeuten konnte. Rhett hingegen schluckte nur ein paar Mal hart. Beide wurden von ihren Peinigern in die gewünschte Position gezwungen.
»Seht ihr das, ihr Schweinehunde?«, brüllte Rossi in Richtung des Hubschraubers und wedelte mit dem Gewehr in der Luft herum. »Ich hab hier zwei von den Geiseln. Welche soll ich jetzt erschießen? Die Schlampe oder den Jungen? Was kommt beim Publikum besser an, was meint ihr?«
»Neiiiin, bitte nicht«, schrie nun die Verkäuferin. »Bitte! Ich habe eine kleine Tochter zu Hause, bitte, bitte nicht, sie braucht mich doch. Ich hab Ihnen doch nichts getan. Lassen Sie mich gehen, bitte…« Sie
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