0942 - Die blutige Lucy
natürlich anfangen zu suchen, aber man würde sie nicht mehr finden, wenn sie einmal die Schwelle ins Dunkel überschritten hatte.
Die Kerzen brannten tiefer. Wachs löste sich auf. Es rann in Tropfen und langen Streifen an den Kerzen entlang nach unten, um dort aufgefangen zu werden, wo sie auf den Haltern steckten.
Wie lange noch bleibe ich allein?
Immer wieder schaute sie zur Tür. Dabei brauchte sie nicht mal den Kopf zu heben, denn der Ausgang lag genau in ihrem Blick, und das alte Holz schwamm im Licht der Kerzen, als wäre es flüssig geworden.
Zwar hatte sich der Himmel draußen mit dicken Wolken bezogen, wie es auch am Abend zuvor der Fall gewesen war, doch an diesem Abend hielt sich der Sturm zurück. Zwar wehte der Wind; es war aber nicht mehr als eine leichte Brise, die über das Land hinwegfloß.
Die Stille stand wie eine Wand im Zimmer. Aber die Wand bekam Risse und Löcher.
Lucy hörte plötzlich etwas, und mit ihrer Lethargie war es vorbei. Plötzlich zuckte sie in die Höhe, denn diese Geräusche, die durch den Türspalt drangen, waren der Beweis, daß jemand kam.
Es war jemand, aber nicht sportlich - schnell, oder wenigstens normal schnell, nein, die Person schien Schwierigkeiten beim Laufen zu haben. Schleifend, schlurfend und müde wirkten die Schritte, aber die Person ging weiter, Stufe für Stufe.
Aber sie ging weiter.
Zwar lag Lucy Tarlington noch in derselben Haltung im Bett, aber ihr Körper hatte sich gespannt.
Sie steckte voller Erwartung, sie wußte, daß es nicht mehr lange dauerte, und sie ließ die Tür keine Sekunde lang aus den Augen.
Dann veränderte sich das Geräusch. Ein Zeichen dafür, daß der Ankömmling die Treppe hinter sich gelassen und den Flur erreicht hatte.
Auch nicht normal, wieder schlurfend, aber schon forscher, wie Lucy meinte.
Die Geräusche waren plötzlich sehr nahe an der Tür zu hören. Jetzt konnte es nur mehr Sekunden dauern, bis die Tür aufgestoßen wurde und ER über die Schwelle trat.
Die Frau starrte hin.
Die Geräusche waren verstummt.
Der andere wartete.
Lucy hielt den Atem an.
Dann hörte sie, wenn auch nur leise, das Knarren der Angeln, als die Tür von der anderen Seite den nötigen Druck bekam. Sie schwang nach innen, die Geräusche blieben, aber die Tür bewegte sich nur sehr langsam. So dauerte es eine Weile, bis Lucy die Gestalt zu Gesicht bekam. Als sie diesem Anblick nicht mehr entgehen konnte, richtete sie sich auf und blieb auf der Bettkante sitzen.
Die Gestalt bewegte sich nicht.
Noch wartete sie und schickte den Hauch von Verwesung und Grab in das Zimmer.
Dann aber ging sie vor.
Einen Schritt weit nur. Es reichte aus, um Lucy alles erkennen zu lassen.
Geirrt hatte sie sich nicht. Der Besucher auf der Türschwelle war die Gestalt aus dem Sarg…
***
Noch ließ das Licht der Kerzen sie etwas in der Dunkelheit verschwimmen, das aber änderte sich sehr bald, als der Ankömmling in das Zimmer ging. Da wurde er vom Widerschein erfaßt.
Lucy Tarlington hatte es noch sehr gut in Erinnerung. Auch jetzt sah es so aus, aber es hatte sich trotzdem verändert, denn der Blutsauger hatte seinen Mund weit aufgerissen, als wollte er seine eigenen Kiefer ausrenken.
Zwei spitze Zähne schimmerten wie leicht angegelbtes Elfenbein. Die Oberlippe hatte er weit zurückgezogen, durch dieses Mundaufreißen war auch sein Gesicht völlig entstellt und verdiente den Namen nicht mehr. Er bewegte sich jetzt sicherer und floß durch den Schein der Kerzen hinweg wie ein langgezogener Schatten, der nun in den Raum eingedrungen war und ihn für sich einnahm.
Er füllte ihn aus.
Nicht mit seiner Gestalt, sondern mit einem widerlichen Geruch, der aus einer tiefen Erde drang, wo normalerweise Würmer und Käfer ihre Heimat gefunden hatten und sich an allmählich vermodernden Leichen ergötzten.
Seine Kleidung war zu weit geschnitten. Sie umschlotterte seinen Körper, doch daran störte sich niemand. Lucy war es egal. Sie hörte sich leise stöhnen, als sie ihren Körper in die Höhe drückte und mit zitternden Knien vor dem Bett stehenblieb.
Ihre Brust hob und senkte sich unter den tiefen Atemstößen. Sie spürte die andere Kraft überdeutlich, die wie ein unsichtbarer Fluß in den Raum eingedrungen war.
Es war eine andere Kraft, und Lucy gelang es nicht, sie zu beschreiben.
Der Begriff Totenmacht kam ihr in den Sinn, doch näher darüber nachdenken konnte sie nicht, weil die Schwelle zu ihrem Dunkel immer näher an sie herankam.
Schritt
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