0942 - Die blutige Lucy
Maul wie ein Tier, das nach einer Beute schnappen wollte, aber bei ihm schloß es sich nicht, sondern blieb offen, und das Kerzenlicht zauberte auf die Spitzen seiner Zähne blitzende Reflexe.
Er war wieder da. Kein Deckel hielt ihn zurück. Er konnte sich endlich aus seinem Gefängnis befreien, und aus seinem Mund drangen ungewöhnliche Geräusche, die sich anhörten, wie ein tiefes, im Zwerchfell geborenes Gurgeln.
Der Vampir kippte seinen Oberkörper nach rechts. Der alte Holzsarg fing an zu wackeln, fiel aber nicht um, denn der Blutsauger stützte sich mit einer Hand auf dem Boden ab.
So kroch er aus der Totenkiste und verharrte daneben.
Noch verfügte er nicht über die Kraft, um auf die Beine zu kommen.
Er blieb zunächst auf dem Boden liegen, rollte sich auf den Rücken, wobei die Füße seiner zuckenden Beine noch den Sarg erwischten und ihn ein Stück zur Seite schoben.
Er starrte an die Decke, die sehr hoch über ihm lag. Dort hatte sich der Lichtschein gefangen und hellere Flecken auf das wie angeräucherte Dunkel gemalt.
Die neue Welt. Sie lag jetzt vor ihm. Er hatte die alte verlassen, das Reich der Finsternis war längst in Vergessenheit geraten, jetzt kam es darauf an, sich mit der neuen Aufgabe zurechtzufinden und alles andere zu vergessen.
Bereits weniger mühsam als bei seinen ersten Kletterversuchen, kam er auf die Beine. Er ging einige Schritte zurück, rutschte an der Tischkante entlang, was ihn aber nicht weiter behinderte. Er konnte jetzt laufen, und er blieb auch auf den Beinen.
Seine Schritte waren mit denen eines normalen Menschen nicht zu vergleichen. Sie waren einfach zu unsicher, regelrecht schwankend. Zudem mußte er die Arme bewegen, um das Gleichgewicht halten zu können, aber er blieb auf den Beinen.
Es klappte immer besser, je mehr Zeit verging. Er stampfte einige Male auf, er drehte sich dann, ohne zu fallen, und er blieb so stehen, daß er zur Treppe schauen konnte.
Die Treppe, die Stufen…
Plötzlich spürte er die Gier in sich. Er wußte sehr genau, daß sich jenseits der Treppe etwas tat. Es war ihm klar, daß er sich nicht allein in diesem Haus befand. Den Geruch eines Menschen konnte er einfach nicht vergessen, auch jetzt nahm er ihn wahr. Es war eben ein bestimmter Geruch, der seine Sinne anregte. Er brachte die Botschaft von frischem Blut, das in den Adern der Menschen floß. Das so warm war und das, sollte es einmal den Weg ins Freie gefunden haben, so herrlich roch und in der Kühle leicht dampfte.
Zum Blut kam ein Vampir immer. Kein Hindernis war ihm da zu weit oder zu hoch.
Auch dieser Untote wollte alle Hürden überspringen. Er bewegte sich schlurfend die Treppe hoch, den Blick auf das Geländer fixiert.
Seine Lippen zuckten.
Er erreichte die erste Stufe.
Dann bewegte er seine Hand und schlug sie auf das Geländer. An ihm klammerte er sich fest und zog sich daran hoch.
Stufe für Stufe…
***
Die blonde Lucy Tarlington stand in ihrem Zimmer, dessen Inneres vom Schein zahlreicher Kerzen erleuchtet war, die auch eine entsprechende Wärme abgaben.
Sie hatte die Leuchter mit den Kerzen gut verteilt und sich so eine wunderbare neue Welt geschaffen, in der sie sich bewegte wie eine Prinzessin im Märchen.
Zwar stand sie auf dem Fußboden, sie ging auch über ihn hinweg, aber sie hatte jedesmal den Eindruck, als würde sie schweben und von unsichtbaren Händen geleitet werden.
Es war herrlich.
Es war so anders.
Musik erfüllte ihren Kopf. Sie drehte sich nach diesen Melodien auf den großen Wandspiegel zu, der ihre Erscheinung sehr deutlich wiedergab. So konnte Lucy vom Kopf bis zu den Füßen sehen, und sie war zufrieden, mit dem, was sie sah.
Nichts erinnerte von der Kleidung mehr an die Frau, die den Sarg zum Haus hochgezerrt hatte. Sie sah aus wie verwandelt. Sie war zu einer anderen geworden. Sie fing an, die Welt zu genießen, und durch ihren Körper tobte die Vorfreude.
Nicht alle Kerzen zeichneten sich auch im Spiegel ab. Doch diejenigen, die sie sah, waren wie Sterne, die ihre Gestalt umgaben, als wollten sie durch ihr schimmerndes Licht der Atmosphäre noch eine besondere Note verleihen, die dadurch etwas Wundersames erhielt.
Lucy lächelte. Sie konnte nicht anders. Sie mußte einfach lächeln. Sie war mit sich selbst zufrieden, hatte ihr bestes Kleid aus dem Schrank geholt und es übergestreift. Ein Traum aus dunkelrotem Samt, der ihren Körper wie zarte Hände umschmeichelte. Es war kein Kleid, wie man es auf vielen Festen und
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