0942 - Die blutige Lucy
Gesellschaften fand, nein, sie hatte es sich bei einer Freundin nähen lassen und durch die Kunst der Freundin ihre eigenen Vorstellungen wahrgemacht.
Das rote Kleid lag relativ eng auf dem Körper. Die Schultern waren frei, der ovale Ausschnitt war gewagt. Die Taille war geschnürt, die Brüste nach oben gedrückt. Sie schienen aus dem Ausschnitt hervorzuquellen.
Das Unterteil des Kleides war normal weit, so daß sich Lucy gut darin bewegen konnte. So war es ihr möglich, durch den großen Raum zu tanzen, und sie genoß es.
Sie atmete tief ein, als sie vor dem Spiegel stehenblieb, um sich genau zu betrachten. Ihr Gesicht war zu einem Lächeln verzogen. Es zeigte eine gewisse Erwartung. Sie wußte, daß sie nicht enttäuscht werden würde, aber es würde noch etwas dauern.
Das blonde Haar hatte sie mit der Bürste nochmals durchgekämmt. Es wurde von keinem Band und keiner Schleife gehalten, sondern fiel in weichen Wellen bis auf die Schultern, wo es zu einer Außenrolle auslief.
Lucy strich über ihr Gesicht. Es war erhitzt. Das Tanzen hatte sie angestrengt, hinzu kam die Erwartung. Sie wußte zudem selbst nicht, wie lange es dauern würde, bis es sich ihr Gast überlegt hatte und zu ihr kam.
Hoffentlich bald, hoffentlich bald…
Sie weinte ihrem normalen Leben nicht nach, obwohl es noch nicht vorbei war. Für sie war die folgende Nacht ungemein wichtig, dann würden sich die Veränderungen ergeben.
Wie ein junges, fröhliches Mädchen drehte sie sich vor dem Spiegel hin und her. Wieder waren ihre Bewegungen tänzerisch, und sie wiegte sich dabei in den Hüften.
Es war so herrlich, allein zu sein und zu wissen, daß bald ein besonderer Gast erscheinen würde.
Alles Reale hatte sie schon hinter sich gelassen. Der Spiegel zeigte ihr, eine neue Welt, in der es kein Tageslicht mehr gab, sondern nur das der Kerzen und später einmal - im Freien - das des Mondes, dessen platinbleicher Schein die Welt für sich einnahm.
Mit einem letzten Schwung drehte sich die junge Frau um und nutzte die Bewegung aus, um auf ihr Bett zuzugehen, wo sie sich hinlegen und den Gast erwarten wollte.
Bevor sie die breite Liegestatt erreichte, drehte sie sich noch einmal um und ging zur Tür. Sie öffnete sie nur spaltbreit und lauschte in den Flur hinein.
Es war nichts zu hören, auch von unten nicht.
Das beruhigte sie nicht. Der Gast brauchte Zeit. Er mußte sich zurechtfinden, und draußen war es noch nicht richtig finster geworden. Lucy stellte dies fest, als sie den Vorhang an einem der Fenster um eine Winzigkeit zur Seite geschoben hatte.
Noch lag die Dämmerung über Land und Meer. Aber die richtige Finsternis würde nicht lange auf sich warten lassen. Es würde sehr finster werden, denn der Himmel zeigte einen richtigen Vorhang von Wolken, die sich wie eine gewaltige Bleidecke zusammenballten, als wollten sie dort oben alles zerdrücken.
Der Spalt schloß sich wieder, und die Frau ging mit langsamen Schritten endlich zu ihrem Bett. Sie legte sich darauf nieder, aber sie nahm dabei Rücksicht auf ihr Kleid. So wie sie auf dem Bett lag, tat es kein Mensch, der schlafen wollte. In ihrer Haltung glich sie einem Modell, das sich ein Maler gemietet hatte.
Schräg lag sie dort. Den linken Arm erhoben und ausgestreckt, den rechten angewinkelt. Ihr Hinterkopf hatte eine weiche Mulde in das Kissen gedrückt, und die Augen hielt sie offen, um zur Decke schauen zu können, wo das Kerzenlicht zahlreiche runde Inseln hinterlassen hatten, die ineinanderflossen.
Lucy war selig, entspannt, aber zugleich auch ungemein aufgeregt, denn immer wieder stellte sie sich vor, wie es passieren würde. Daß etwas passierte, war ihr klar, nur mit dem wie kam sie nicht zurecht.
Sie hatte keine Erfahrung. Lucy wußte nur, daß man sie ausgesucht hatte, doch mit Erfahrungen konnte sie nicht dienen. Das würde sich bald ändern.
Geduld war eine wichtige Tugend. Alles andere mußte sie aufschieben. Es ging einzig und allein darum, sich in Geduld zu üben. Die Zeit so zu nehmen, wie sie war, sich noch in dieser für sie geschaffenen Atmosphäre bewegen wie in einer märchenhaften Welt, die sie so sehr liebte und nie mehr verlassen würde.
Das große Ereignis, das dicht vor ihr lag, kam ihr ebenfalls vor wie ein Märchen. Sie würde dort hineintauchen und sich darin wohl fühlen, als jemand, der sich aus dem normalen Leben verabschiedet hatte.
An ihre Eltern oder an die Verwandtschaft dachte sie nicht. Man würde sie irgendwann vermissen und
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