0942 - Die blutige Lucy
Fleisch. Knorpel und kleine Knochen brachen mit knirschenden Geräuschen, das alles war für Lucy nebensächlich. Etwas anderes interessierte sie wesentlich mehr.
Da war der Geschmack des Blutes, der sich in ihrem Mund ausbreitete. Ein wunderbarer, ein herrlicher Geschmack. Sie konnte ihn nur loben und sich daran ergötzen, auch wenn er sie noch nicht so befriedigte, wie sie es gern gehabt hätte.
Aber er war vorhanden. Blut - dieser wunderbare Saft. Dieses einmalige Vampirgetränk, das ihren ersten Hunger und auch Durst zugleich stillte.
Lucy preßte die Beute aus wie eine Zitrone, und das Blut sickerte in ihren Mund. Es rann über die Zunge, sie konnte es schlucken, und sie genoß es bis zum letzten Tropfen, bevor sie den schlaffen Fellkörper wegschleuderte und zuhörte, wie er gegen die Wand klatschte.
Sie knurrte leise. Ganz zufrieden war sie nicht, aber die erste Gier hatte sie stillen können. Hinzu kam, daß dieses Rattenblut nicht mit dem Lebenssaft der Menschen identisch war. Es schmeckte anders, trotzdem würde es ihr Kraft geben.
Lucy Tarlington stand auf. Sie blieb zunächst breitbeinig stehen, um sich an die neue Haltung zu gewöhnen. Dann senkte sie den Kopf, schüttelte ihn, so daß ihre Haare flogen. Aus dem Rachen drang ein heiser klingendes Krächzen. Sie wollte mehr, denn sie war auf den Geschmack gekommen, und sie mußte auch herausfinden, wo sie sich befand.
Dunkel, stockfinster. Kein Licht. Es wies auch nichts darauf hin, daß es sich ändern würde.
Es war alles so finster, aber sie hörte etwas, obwohl die Dunkelheit noch blieb.
Seltsame Geräusche. Mehr ein Kratzen. Irgendwo in der Finsternis, aber nicht neben, sondern über ihr. Lucy kam damit nicht zurecht, bis sie das Knarren vernahm und kurz darauf einen fahlen, flackernden Schein sah, der durch einen Spalt drang und sich wie ein zitterndes Netz auf einer Steintreppe verlor.
Endlich konnte Lucy etwas sehen, und plötzlich zeigte sich die Erinnerung in Bildern.
Jetzt wußte sie, wo sie sich befand.
In einem Keller.
In ihrem Keller.
In dem Haus hatte sie gewohnt!
Sie ging auf die Treppe zu. Bevor sie die ersten Stufen betrat, blieb sie stehen und schaute nach oben. Man hatte ihr die Tür geöffnet, aber derjenige, der dafür verantwortlich gewesen war, zeigte sich nicht. Kein Umriß zeichnete sich im Spalt dort oben ab. Die Tür war nur für sie geöffnet worden.
Lucy lächelte. Ihre Lippen waren noch durch das Rattenblut leicht verschmiert. Sie störte es nicht, einen anderen sollte es auch nicht stören. Lucy begann mit dem Aufstieg. Sie hielt sich am Geländer fest. Schon wenig später war sie in den auf den Stufen zitternden Schein geraten, der sie überhaupt nicht störte. Es war das Licht einer Kerze und nicht das der Sonne.
Wenn sie daran dachte, fing sie an zu frösteln. Sie haßte das Sonnenlicht. Es konnte ihr gefährlich werden. Als Vampirin mußte sie sich davor schützen.
Stufe für Stufe stieg sie die Treppe hoch. Vor der Tür blieb sie stehen und drückte sie weiter auf, damit sie ein größeres Blickfeld bekam. Sie schaute in die Halle des Hauses, und wieder war ihr alles so wunderbar bekannt.
Die Möbelstücke kannte sie noch aus dem letzten Leben. Gut verteilt standen die Kerzen in den schweren Eisenleuchtern. Einige von ihnen hingen auch von der Decke herab. Es war ein Raum wie eine Totenhalle, aber Lucy fühlte sich wohl, als sie Schritt für Schritt weiterging, dabei ihre Arme spreizte und sich vorkam wie eine Königin in einem wundersamen und sehr großen Reich.
Sie ging und schien dabei zu schweben. Leicht und sicher fühlte sich Lucy, irgendwie behütet von den düsteren Schatten, die über die Wände hinweghuschten, ohne dabei einen Laut abzugeben.
Weitergehen?
Nein, sie blieb stehen. Sie mußte das Bild einfach aufnehmen. Es war nicht von allein entstanden, jemand hatte dafür gesorgt. Lucy dachte plötzlich an ihren Geliebten, den sie aus dem Sarg befreit hatte. Er mußte sich noch in der Nähe befinden, denn kein anderer sonst hätte die Kerzen alle anzünden können.
Nur er.
Und er kam gemächlichen Schrittes.
Sie hörte ihn. Sie drehte sich um, ebenfalls langsam. Und dann sah sie ihn. Er warf keinen Schatten, aber er wirkte selbst wie ein Schatten, als er auf sie zukam.
Lucys Augen leuchteten. Sie streckte ihm die Arme entgegen. Er sollte sie umfangen, sie wollte bei ihm bleiben. Sie hatte ihm ihr Blut gegeben, und er hatte sie in das neue Leben eingeführt, das ewig dauern sollte, das
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