0942 - Die blutige Lucy
veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und er lächelte sie breit an. »Ahh, Lady Agatha«, hörte ich ihn sagen. »Wenn das keine Überraschung ist! Sie sehen wunderbar aus.«
»Hören Sie auf, Mr. Conolly. Sie sind und bleiben ein Schmeichler. Wollen Sie eine alte Frau auf den Arm nehmen?«
»Das würde ich mir nie erlauben.«
»Wie schön.«
Da sie ihre Stimmen senkten, hörte ich nicht mehr, was die beiden miteinander sprachen. Ich widmete mich wieder meinem Bier, schaute mir die Gäste an und dachte darüber nach, daß Vampire sich leider den Zeiten angepaßt hatten. Zwar galten die alten Regeln noch, daß Sonnenlicht ebenso gefährlich für sie war wie Knoblauch oder der angespitzte Eichenpflock, aber diese moderne Generation von Blutsaugern schaffte es immerhin, sich zu bestimmten Zeiten unter die Menschen zu mischen und sich so zu benehmen wie sie. Deshalb war es auch so schwer für uns, herauszufinden, wer nun diese Lucy Tarlington war.
Bill unterhielt sich mit der älteren Dame sehr intensiv. Zum Abschied küßte er ihr die Hand, ließ sie dann gehen und kehrte zu mir zurück, wobei er wieder die Augen verdrehte.
»War anstrengend - nicht?«
Er nickte. »Das kannst du wohl sagen.« Dann zwinkerte er mir zu. »Aber es hat sich gelohnt.«
»Du weißt Bescheid?«
»Sicher.«
»Und?«
»Lucy befindet sich hier im Hotel.«
Ich stieß scharf die Luft aus. »Da haben wir ja Glück gehabt. Wo müssen wir hin?«
»In ein Zimmer, eine Suite oder so…«
Ich sah einen Teil der Felle bereits davonschwimmen. »Warum das denn, verflixt? Hat sie sich hingelegt?«
»Nein, sie ist mit jemandem weggegangen.«
»Kannte die Lady ihn?«
»Ja, er heißt Hal Doring. Ein Geschäftsmann. Relativ undurchsichtig. Ein Mann mit viel Geld und wenig Background.«
»Was heißt das denn schon wieder?«
»Nicht adelig, keine sogenannte gute Familie und so. Er soll Importeur sein, aber die Lady konnte mir nicht erklären, was er importiert. Es ist alles etwas verschwommen und undurchsichtig.«
Ich starrte zu Boden, weil ich meine Gedanken zunächst einmal sammeln mußte. »Ist sie mit ihm gegangen, weil sie sein Blut will?« murmelte ich. »Das könnte sein, muß aber nicht.«
»Eben.«
»Dann frage ich mich, was die beiden miteinander verbindet.«
Ich hob die Schultern. »Das ist natürlich schwer. Erst Importeur. Was diese Lucy beruflich macht, weiß keiner. Es gibt sie, fertig. Sie ist ein Phantom in Fleisch und Blut.«
»Und sie befindet sich im Hotel.«
»Ja, in Dorings Zimmer.«
Bill lächelte. »Wir sollten uns erkundigen und den beiden einen Besuch abstatten.«
»Manchmal könnten wir eineiige Zwillinge sein«, sagte Bill. »So gleich denken wir…«
***
Damals
Sie kannte nicht mal seinen Namen, aber sie wußte, daß es ihn gab, daß er sie unterstützte, daß ihr Blut in seinem Körper floß, und genau das schweißte sie zusammen.
Sie hatte ihn gerettet, er hatte sie gerettet, und sie waren sich in die Arme gefallen wie ein Paar.
Sie hatten auch den Tag in diesem Haus verbracht, versteckt im Keller, und Lucy hatte gespürt, daß ihr das Licht des Tages nicht so gut bekam. Es machte sie schwach, krank, und das Sonnenlicht war noch gefährlicher, denn das hätte sie ausgebrannt.
Erst als die Dämmerung ihre Schatten vorschickte, ging es ihr wieder besser, und die alte Gier nach Blut erwachte von neuem in ihr. Sie wollte kein Tier mehr, sie brauchte jetzt einen Menschen, und der andere versprach ihr viele Menschen, aber er riet ihr auch, entsprechend vorsichtig zu sein.
»Sind wir denn nicht stark genug?« fragte sie.
»Das schon, aber auch die Menschen haben gelernt. Die Angst vor uns besteht, aber sie fangen an, sich zu wehren. Sie wollten mich töten und meine Asche im Meer versenken, das haben sie nicht geschafft, denn die Mächte der Natur waren auf meiner Seite. Der Orkan hat uns überrascht und das Boot zertrümmert. Es hat sich niemand retten können, alle sind ertrunken, aber ich existiere, ebenso wie du.«
»Dann sind wir jetzt allein.«
»Nur für uns«, sagte der Blutsauger.
»Und wir haben das Leben.«
»Das immerwährende Leben, wenn wir achtgeben.«
Sie hatten den Keller verlassen, saßen in der Halle, wo sich der Geruch der kalten Kaminasche wie einunsichtbarer Schleier ausbreitete, und sie schauten zu, wie es vor den Fenstern dunkler und dunkler wurde. Die Nacht hatte den Kampf gegen den Tag wieder einmal gewonnen.
Lucy hatte sich bisher nicht getraut, die Frage zu stellen, nun
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