0942 - Die blutige Lucy
beobachtet zu werden. Erst dann verließ sie die Nähe der Kisten und huschte so leise wie möglich auf das Fischerboot zu.
Die See war in dieser Nacht nicht rauh. Der Wind hatte sich gelegt. Normaler Wellengang schwappte in das natürliche Hafenbecken hinein. Er ließ die festgemachten Boote schaukeln.
Die einsame Laterne schaukelte über ihrem Kopf. Das Streulicht erreichte nur schwach das Deck, und das war günstig für sie, als sie an Bord kletterte und nach einem Versteck suchte. Sie entdeckte es nicht oben, sondern unten, wo sich die kleine Kajüte befand mit den beiden Schlafplätzen, aber auch die Lagerräume für den Fisch. Hier standen auch die Kübel mit dem Eis, das in der kalten Luft nur langsam schmolz.
Hinter den Kübeln verbarg sich die Blutsaugerin und wartete ab. Sie hockte in der tiefen Finsternis, denn über ihr waren die Luken noch geschlossen. Die würden erst geöffnet werden, wenn jemand den Fang an Bord geholt hatte, um ihn mitsamt dem Eis in den Laderaum zu werfen, wo die Fische dann zwischen die Eisbrocken fielen.
Lucy hatte Zeit, auch wenn sich die Gier und der Drang immer mehr verstärkten. Dieses Boot würde als erstes den Hafen verlassen, allein wie immer.
Zwei Leute waren an Bord, das wußte sie auch.
Nein, drei.
Denn sie lauerte…
***
Lange hatte Lucy nicht zu warten brauchen, als die beiden an Bord gingen. Sie hörte ihre Stimmen, von denen eine nicht eben begeistert klang. Der Mann beschwerte sich darüber, daß es zum Auslaufen viel zu früh war, was der andere nicht gelten ließ und darauf schimpfte, daß sein Helfer wieder zu lange gesoffen hatte.
Das Segel war gesetzt. Der Wind stand günstig. Er trieb das nicht sehr große Boot aus dem Hafen und hinaus auf die offene See, wo sich der Wellengang stärker bemerkbar machte, denn Lucy spürte sofort das heftige und ungewohnte Schlingern.
Die Fässer mit dem Eis waren festgezurrt worden, zum Glück, sonst wären sie gegen die Vampirin gerutscht, die wußte, daß es nicht mehr lange dauern würde, bis sie endlich zuschlagen konnte. Die Zeit war reif, und sie gierte nach Blut.
Lucy war es nicht gewohnt, auf See zu fahren. Auf allen vieren kroch sie durch den Laderaum, von dort hinein in die kleine Kajüte, in der die beiden Fischer einige Habseligkeiten verstaut hatten, bevor die Reise begann, und sie richtete sich auf, obwohl sie geduckt stehenbleiben mußte.
Die Dunkelheit hier unten kam ihr vor wie Fett. Überhaupt leuchteten nur vereinzelt stehende Sterne am Himmel, die verloren wirkten.
Und das blasse Licht der Sturmlaterne schwankte im Wind, als wäre es der blasse Gruß aus einem gespenstischen Reich. Vor Beginn des Niedergangs blieb die Blutsaugerin hocken. Die Stimmen der beiden Männer hörte sie nicht, denn über ihr fuhr der Wind in das Segel und ließ den Stoff knattern.
Hinzu kam das Rauschen des Wassers, das Klatschen der Wellen, wenn sie gegen die Bordwand schlugen wie feindliche Pranken, und all diese Geräusche gefielen ihr, denn sie brauchte nicht unbedingt leise zu sein, wenn sie den Niedergang hochkroch, um in die Nähe der beiden Opfer zu gelangen.
Sie freute sich darauf. Ihre Augen hatten einen dunklen Glanz bekommen. Ihr Mund stand offen, und aus dem Oberkiefer wuchsen die leicht gelblich schimmernden Vampirzähne hervor.
Sie tappte hoch.
Der erste Blick über das Deck. Noch aus einer Froschperspektive hervor, aber sie entdeckte bereits einen der beiden Fischer. Er hockte auf einer Bank und war mit dem Netz beschäftigt. Lucy erkannte den Mann im Profil. Er trug eine Strickmütze auf dem Kopf und hatte sich in dicke Kleidung gehüllt.
Wo hielt sich der andere auf?
Lucy kroch weiter und blieb dort liegen, wo das Segel einen Schatten über sie warf.
Endlich sah sie auch den zweiten Mann. Er stand am Heck. Was er tat, konnte sie nicht erkennen, zumindest starrte er auf die Wellen, die wie flüssiges, dunkles Glas wirkten.
Der Mann mit der Mütze war wichtiger.
Sie hörte ihn husten. Dann schimpfte er, machte aber weiter und hatte auch die Gestalt am Heck nicht gestört.
Auf dem Boden bewegte sich Lucy weiter. Daß er schmutzig und naß war, kümmerte sie nicht. So etwas nahm sie gar nicht zur Kenntnis. Sie sah nur ihr Opfer, das in seine Arbeit vertieft war und sich mit dem Netz beschäftigte.
Es glitt über seine Knie, und der Mann war dabei, noch einmal die Reißfestigkeit der Maschen zu prüfen.
Lucy schob sich schlangengleich vor. Über ihr brauste der Wind in den Segelstoff. Das
Weitere Kostenlose Bücher