0942 - Die Prophezeiung des Uriel
sagte Nicole bitter.
»Bitte, Verehrte. Mein Meister meint es gut mit Euch. Er steht im Dienste der Menschen. Er wird nicht zulassen, dass CHAVACH über die Menschheit kommt.«
Nicole schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem Garten zu. »Ich kann dir nicht sagen, wie lange ich das noch aushalte. Ich muss irgendwann -« Sie hielt inne und fuhr herum. Was war los? Warum hatte sie auf einmal das Gefühl, der Frieden des abendlichen Augenblicks hätte sich in Luft aufgelöst? Sie suchte mit den Augen nach dem Shinigami. Doch die Schatten in der Nische schienen tiefer und dunkler geworden zu sein.
Die Maske über dem rauchgrauen Seidenanzug hatte das Kinn weit in die Luft gehoben und sah Nicole grimmig an. Für einen Moment ergriff Panik Nicole - verlor der Kami jetzt die Geduld mit ihr? Doch als er wieder zu sprechen anfing, wurde ihr klar, dass er zwar zornig war, jedoch nicht auf sie.
»Verehrte, es tut mir leid. Wir müssen aufbrechen. Bitte gebt Eurem Freund, dem Geisterjäger, Bescheid. Etwas Dunkles, Schreckliches wird sich heute Abend ereignen, das Eurer Entschlossenheit und Tatkraft bedarf.«
Nicole war schon aufgesprungen und hastig in ein paar Kleidungsstücke gefahren; T-Shirt, Jeans und Sneaker. Sie steckte auch den Dhyarra in die Tasche, doch als sie den E-Blaster in den Hosenbund stecken wollte, schüttelte der Shinigami grimmig den Kopf. »Nicht dieses. Es wird nichts nützen und Euch heute nur schaden.« Zögernd legte Nicole die Schusswaffe der Ewigen weg.
»Was zur Hölle ist denn los?«
»Geht zum Bahnhof Ikebukuro, dies ist der nächste. Ihr müsst Euch beeilen. CHAVACH wird dort in Kürze auftauchen.«
Nicole zuckte kurz zusammen, als der graue Geist den Namen aussprach. »An einer U-Bahn-Station?«
»Er ist dazu übergegangen, sich von Menschenansammlungen zu ernähren. Er wächst. Heute Abend wird in einem dieser Züge eine große Menschenmenge feiern, und er wird dort sein.«
Für einen Moment war Nicole verwirrt. Was meinte der Shinigami damit, dass in einem der Züge gefeiert würde? Doch dann fiel ihr ein, was Madame Ichiko ihr vor ein paar Tagen belustigt erzählt hatte. Es kam in letzter Zeit wieder öfter vor, dass sich in den Zügen gerade dieser berühmtesten Bahnlinie Japans Flashmobs versammelten. Per SMS oder E-Mail wurden Leute zusammengerufen, um in einem der Wagen eine vollständige Runde der ringförmigen Bahnstrecke hindurch zu feiern.
Natürlich. Für CHAVACH, der sich von der Energie und der Lebenskraft der Menschen ernährte, war so etwas ein ganz besonderes Festmahl. Das erschien Nicole logisch. Auf einmal fühlte sie Vorfreude in sich. Es war, als ob sie aus einem langen Schlaf aufgewacht war - vielleicht konnte sie ja heute Abend endlich diesen Dämon in die Enge treiben! Doch dann nahm sie sich zusammen. Das hier war ernst. Sie schob die mit Papier bespannte shoji beiseite und schlüpfte durch den Spalt, um Madame Ichiko und ihrem Neffen Bescheid zu geben. Dann sah sie sich um, ob der Shinigami ihr folgte. Doch die Nische war leer.
Tja , dachte sie, sieht aus, als hätte ich mich vertan. Ist er wohl doch nicht auf dem SMS-Verteiler der Organisatoren…
***
Das Gedränge war unbeschreiblich.
Unglaublich. Es ist noch keine halbe Stunde her, da habe ich mir Action gewünscht. Aber das hier spottet ja jeder Beschreibung. Der Bahnhof Ikebukuro war einer der größten Bahnhöfe der Stadt - und des Landes. Kein Wunder, dass hier der Bär steppte.
»Und wie sollen wir jetzt wissen, wo die Leute feiern? Immerhin stehen wir nicht auf der Liste.«
»Aber wir haben einen Shinigami«, sagte Nicole zuversichtlich und steckte ihre Karte in den Schlitz des Durchgangs, der zu den Bahnsteigen führte. Sie ging hindurch und blieb dann knapp dahinter so plötzlich stehen, dass Minamoto fast in sie hineingelaufen wäre. »Madame!«, rief er erschrocken, doch Nicole legte einen Finger auf die Lippen.
Sie spürte, dass der Shinigami hier war. Direkt in ihrer Nähe, trotz der Tausenden von Leuten, die um sie herumströmten wie ein Fluss. Für einen Moment fühlte sie sich wie im Auge des Sturms, still, schweigend. Dann wusste sie auf eine geheimnisvolle Weise Bescheid. Sie sah sich um, doch nichts war zu sehen. Nicht einmal ein grauer Rauchschwaden, wie Nicole fast erwartet hatte. Doch sie hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie packte Masaburo Minamoto am Jackenärmel und zog ihn in die Richtung des Bahnsteigs, an dem die Yamanote-Linie abfuhr.
»Hier
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