0943 - Herren aus der Tiefe
an Dellinger's Point. Stygias Flügel vor dem klaren, kalten kanadischen Sternenhimmel. Und sie dachte an Mike, der immer noch bewusstlos in der Spezialklinik lag - nur wenige Blocks von ihr entfernt, und doch so weit fort. Sie dachte daran, wie Böses entstand - und welche Folgen es hatte.
Als habe er ihre trüben Gedanken erraten, wechselte Gryf das Thema. »Hat das NYPD noch keine Gemeinsamkeiten zwischen D'Aquino und Silverman festgestellt? Wenn wir davon ausgehen wollen, dass ein irdischer Mörder hinter diesen Taten steckt, muss es auch ein real erfassbares Motiv geben.«
Sipowicz lächelte leicht. »Nun, wir wissen bereits, dass sie sich kannten. Wir haben ihre Lebensläufe verglichen und festgestellt, dass sie zur gleichen Zeit an der Universität waren, direkt hier in New York. Vermutlich sogar befreundet. Außerdem waren beide sehr erfolgreiche Geschäftsleute, verkehrten in den höchsten Kreisen der Stadt.«
Während der Sergeant sprach, ließ Jenny ihren Blick durch den Gastraum schweifen. An der Theke saß einer der Freaks - ein schmächtiges Bürschlein der Marke Möchtegernhalbstark, das offensichtlich auf dem Trittbrett des Chaoszuges mitfuhr, der vor dem Police Plaza Station gemacht hatte. Der Junge hatte die Nase in einer Zeitung verborgen, doch die Titelseite war Jenny zugewandt.
Und sie ließ ihr Schauer über den Rücken fahren!
War es das? War das der Hinweis, den sie brauchten?
»STUDENTENCLIQUE WAR DREIGESTIRN«, stand dort in großen Lettern geschrieben. »BÜRGERMEISTER ROSLIN MIT DEN OPFERN BEFREUNDET. IST ER DER NÄCHSTE TODESKANDIDAT?«
Kapitel 6 - Gracie Mansion
Gracie Mansion war ein schönes Gebäude. Ende des achtzehnten Jahrhunderts im Federal Style errichtet, verlieh das mit gelb gestrichenem Holz verkleidete, zweigeschossige Flachdachhaus mit den weißen Fensterrahmen dem Carl-Schurz-Park im östlichen Manhattan zusätzlichen Flair. Seit Generationen stand es den gewählten Bürgermeistern der Stadt als offizielle Residenz zur Verfügung, wenngleich nicht alle Vertreter dieses hohen Amtes es als Wohnsitz nutzten.
John Roslin tat es. Und er hatte es nicht verdient, dass sich eine geachtete, demokratische Journalistin heimlich in seinem Wandschrank versteckte, um mit ihm zu sprechen.
Mädchen, was machst du hier eigentlich? Jenny Moffat konnte es nicht fassen. Erst die Sache in der letzten Nacht, jetzt das? Irrte sie sich, oder mutierte sie unter dem Einfluss dieses eigenartigen Druiden zur professionellen Einbrecherin? Rein juristisch hatte sie jedenfalls keinerlei Spielraum mehr - Hausfriedensbruch war und blieb Hausfriedensbruch.
Reglos und mucksmäuschenstill stand die junge Frau in dem vielleicht zwei Quadratmeter großen begehbaren Abstellkabuff und ließ sich die Ereignisse der letzten Minuten wieder und wieder durch den Kopf gehen.
Bürgermeister Roslins Büro in City Hall hatte die Anfragen der Presse und des NYPDs gekonnt abgewehrt und niemanden zu dem Mann vorgelassen. Wieder und wieder hatten sie es versucht, bis Andy auf die Idee gekommen war, Roslin könne sich statt in seinem Amts-, auch in seinem Wohnsitz verschanzt haben. Vermutlich warte er dort ab, bis sich der Sturm der medialen Aufmerksamkeit wieder lege, so der Sergeant.
Gryf hatte sofort vorgeschlagen, ihn dort aufzusuchen - zur Not auch ohne Einladung. Immerhin dränge die Zeit, und Roslins Leben sei wahrscheinlich in Gefahr. Und dann…
Und dann sind wir gesprungen. Mal wieder. Ungefragt in die Leben anderer. Typisch.
Jenny schauderte bei dem Gedanken daran, was ihre Kollegen und ihr Publikum von ihr denken würden, wenn sie wüssten, wie sie in dieser Sache vorging. Es missfiel ihr ja selbst. Aber es war effizient, daran ließ sich nicht rütteln.
Gryf hatte sie vor knapp einer Minute in diesem engen Kabuff abgesetzt, das nach Staub und Mottenkugeln stank, und war wieder verschwunden, um auch Andy zu holen. Zu dritt wollten sie dem wahren Stadtvater New Yorks gegenübertreten - und an seine Vernunft appellieren. Roslin war ein Stück in diesem bizarren Puzzle, ob er wollte oder nicht. Die Informationen, die er besaß, mochten sich als Zünglein an der Waage herausstellen und den Fall aufklären. Es musste ihn nur mal jemand fragen - und durch die Mauer dringen, die er errichtet hatte, um genau diese Art von neugierigen Bittstellern von sich fernzuhalten.
Plötzlich war ein Körper vor ihr. Von einem Augenblick zum anderen stand er da und presste Jenny in der Enge des Schrankes zurück. Hart
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