0944 - Blutgespenster
Seltsamerweise wurde sie bei diesem Anblick klar im Kopf, der nämlich bei ihr einige Erinnerungen auslöste.
In der Schule hatten sie mal über Fledermäuse gesprochen. Sie waren auch in ein Museum gefahren, um sich die verschiedenen Rassen anzusehen.
Und diese hier?
Lucy wollte es kaum glauben, aber es gab keine andere Lösung für sie. So wie sich diese Gestalt verbreiterte, als hätte sie zwei riesige Flügel an den Seiten - das konnte nur eine Fledermaus sein.
Aber eine übergroße. Mächtiger als ein Mensch. Eine Riesenfledermaus, wie es sie eigentlich nicht gab oder nicht geben konnte.
Sie sah die Schwingen, sie sah auch den Körper, und sie sah einen Kopf. Mensch oder nicht?
Wahrscheinlich Monster. Als hätte er sich eine Maske über den Kopf gezogen. Das Gesicht war nicht zu sehen, bis das seltsame Licht erschien. Sehr schwach und bleich nur, und es umgab den Kopf der Gestalt, aber auch einen Teil des Körpers.
Lucy begriff die Herkunft dieses Lichts nicht. Es war keine Lampe eingeschaltet worden. Das Licht hatte sich einfach irgendwo gebildet und umleuchtete die Gestalt als fahler Schein.
Jetzt sah sie das Gesicht auch besser.
Nein, das war kein Gesicht.
Das war so etwas wie eine Maske, die dem Schädel eines Reptils nachgebildet worden war. Lucy kannte Schlangen und Echsen. Sie hatte Fotos und Zeichnungen von diesen Reptilien gesehen, und so ähnlich wie sie sah auch der Kopf der Gestalt aus.
Zwei Augen sah sie auch.
Rot. Sehr rot. Wie zwei Glutstücke. Unheimlich sahen die Augen aus. Als wären sie mit Blut gefüllt worden, und Lucy zuckte zusammen als sie die Berührung der Untoten spürte.
»Das ist er!« wisperte die blutige Lucy. »Das ist mein Helfer, mein Retter. Aber es ist auch der, den ich aus den Tiefen geholt habe, wo man ihn töten wollte. Man hat ihn in einen Sarg gelegt. Man hat einfach nur dafür gesorgt, daß er durch die Wellen schwamm. Irgendwann würde der Sarg schon zerstört werden, damit er in der Tiefe verschwand. Bisher ist das nicht geschehen. Ich habe genau gespürt, daß er zu mir hin unterwegs war. Ich sah ihn nicht, aber ich liebte ihn schon damals. Und eines Tages war es soweit. Da habe ich ihn an dem Strand unter unserem alten Haus gefunden und ihn aus seinem Sarg befreit. Jetzt ist er hier, und wir gehören zusammen.«
Um genau das zu demonstrieren, verließ die blutige Lucy die Nähe des Kindes und stellte sich vor ihrem Geliebten auf.
Lucy Tarlington hätte normalerweise weggeschaut oder ihre Hand vor die Augen gepreßt, denn was ihre angebliche Verwandte da getan hatte, das machte man nicht.
Sie hatte ihr Kleid ausgezogen.
Sie war nackt, fast nackt, trotzdem stellte sie sich genau vor die unheimliche Gestalt mit den roten Augen, die plötzlich ihre schuppigen Arme mit den langen Krallen an den Händen bewegte und die nackte Lucy umfing. Es war eine zärtliche Bewegung, die das Kind nicht nachvollziehen konnte. Es war durch dieses Bild geschockt, und es hatte zudem noch nie in seinem Leben eine entblößte erwachsene Frau gesehen.
Die blutige Lucy lehnte sich gegen die Gestalt. Sie legte den Kopf dabei ein wenig schief und verdrehte die Augen, während sie lächelte und ihre Vampirzähne zeigte. »Wir gehören zusammen, Kleine. Ich liebe ihn. Er liebt mich. Und als Zeichen meiner großen Liebe zu ihm habe ich dich hierhergeschafft. Ich selbst verzichte auf dein Blut, kleine Lucy. Aber er soll es bekommen…«
***
Das Vampirpendel hatte ausgeschlagen. Sehr stark sogar. Und immer und immer wieder. Marek hielt es fest. Er ließ es nicht aus den Augen, während er neben mir herging. Immer nach Norden, immer der Küste entgegen, wobei wir uns noch nicht weit von Llanfair entfernt hatten. Das Dorf lag nur eine Steinwurfweite hinter uns, aber es war längst in Vergessenheit geraten, denn dieser Fall hatte eine neue Wendung erhalten, und wir konnten uns vorstellen, daß wir dicht vor einer Lösung standen.
Trotz aller Bedrängnis waren wir heilfroh, zu viert gefahren zu sein, so hatten Suko und Bill im Ort bleiben können, um sich dort um die Blutsauger zu kümmern, die gewissermaßen als Nebenprodukt abgefallen waren, denn tatsächlich ging es um andere Dinge, wie Frantisek und ich meinten. Die mußten wir jedoch noch aufdecken.
Das Vampirpendel schlug weiter aus, als hätte jemand dagegen geschlagen. Die Augen im versteinerten Gesicht der verbrannten Vampirin Zunita leuchteten in einem knalligen Rot, so stark, als wollten sie im nächsten Augenblick
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