0944 - Blutgespenster
Angst. Das Gefühl war so groß, daß es ihr schwerfiel, normal Luft zu holen.
Man hatte sie zwar gehalten, aber die Dunkelheit sorgte dafür, daß sich in ihrer Phantasie die schrecklichsten Bilder einfanden.
Lucy kam sich vor wie in einer dunklen Hölle, aus der jeden Augenblick schreckliche Gestalten vordringen konnten. Oder sie saß in einer Gondel, die aufwärts in Gefilde schwebte, wo unheimliche Gestalten auf knöchernen Thronen saßen, um sie in Empfang zu nehmen.
Dicht und kalt war die Finsternis. Sie umgab das Kind, dessen Bewußtsein manchmal regelrecht wegsackte und sie selbst dabei fortschwemmte. Dann war sie überhaupt nicht mehr vorhanden, körperlich und seelisch. So etwas hatte sie noch nicht erlebt und sich auch nie vorgestellt.
Doch sie schwebte noch immer in der unheimlichen Gondel. Immer höher, immer mehr dem Ziel entgegen, wo etwas wartete, mit dem sie überhaupt nicht zurechtkam.
Ein Monstrum. Eine andere Welt. Der Leuchtturm war nicht mehr so, wie sie ihn sich vorgestellt hatte. Er mußte sich verändert haben. Er war sehr hoch, aber es war auf keinen Fall der Himmel, in den sie hineingetragen wurde.
Nur Lucy atmete, die Blutsaugerin nicht. Lucy lauschte ihrem eigenen Keuchen, das in Intervallen über ihre Lippen drang. Die Angst hatte sie auch innerlich kalt werden lassen, und als die blutige Lucy sie schließlich ansprach, da klang ihre Stimme so weit entfernt und war kaum nachzuvollziehen.
»Das Ziel ist nah, sehr nah, kleine Lucy. Da wirst du ihn dann kennenlernen. Er freut sich auf dich. Er wartet schon. Und ich freue mich auf ihn, denn ich habe ihn gerettet, und er hat mich gerettet, das wollte ich dir noch sagen.«
Die andere konnte sagen, was sie wollte, Lucy verstand sie nicht. Man schleifte sie höher. Jetzt sogar schneller, und manchmal prallten ihre Füße gegen die Wand.
Bis plötzlich die Finsternis riß.
Es wurde nicht hell, nein, beileibe nicht, aber das graue Licht sickerte schon in die dichte Finsternis hinein und riß sie etwas auseinander.
Die Vampirin wuchtete Lucy hoch und stellte sie dann ruckartig ab. Damit hatte das Mädchen nicht gerechnet. Kaum stand es auf seinen Füßen, da brach es auch schon zusammen und wurde von der kalten Hand wieder in die Höhe gezerrt.
»Wir sind da!«
Lucy Tarlington sah dies als Aufforderung an, sich umzuschauen, was sie auch tat.
Getäuscht hatte sie sich nicht. Die Dunkelheit hier oben war nicht mehr so dicht wie noch im Bereich der Treppe. Die beiden hatten die Spitze des Leuchtturms erreicht. Er war zwar alt und mochte auch ein wenig baufällig sein, aber die Scheiben hatten die langen Jahre überstanden. Allerdings waren sie von außen ziemlich schmutzig.
Dahinter lag die normale Welt. Da fand sie den Himmel, die Wolken, und sie hätte auch auf das Meer schauen können. Statt dessen stand sie in einem fast leeren Raum und sah so gut wie nichts, denn jemand hatte die große Leuchte abmontiert. Es waren nur mehr Fragmente vorhanden, das Glas sah Lucy nicht mehr.
Dafür ihre Entführerin. Sie stand neben dem Kind, und sie bewegte ihren Kopf, als wäre sie dabei, nach etwas zu suchen. Hinter den Rücken der beiden gähnte der Einstieg zur Turmspitze. Ein dunkles Loch, hinter dem es stockfinster war.
Lucy dachte daran, daß sie aus eigener Kraft in der Finsternis die Treppe nicht hinablaufen konnte.
Sie würde sehr bald stolpern, dann fallen und war dann wohl bald tot.
Tot?
Etwas beschäftigte sich in ihrem Kopf mit diesem Gedanken. Neu für ein zehnjähriges Kind, das sich darüber noch nie im Leben Gedanken gemacht hatte.
Aber jetzt war er so nah - so schrecklich nah, als hätte er sie schon berührt.
Nein, es war ihre kalte Hand, die sich unter Lucys Kinn gelegt hatte. Durch einen leichten Druck zwang die Untote das Kind, in eine bestimmte Richtung zu schauen. »Da, Kleine. Sieh dorthin! Schau ihn dir an, und du wirst sehen, wer mich gerettet hat und wen ich habe retten können…«
Das Mädchen hatte keinen eigenen Willen mehr. Es tat alles, was man ihm sagte, und auch jetzt schaute es genau in die vorgegebene Richtung.
Sie sah die Gestalt.
Zuerst kriegte sie einen tiefen Schreck, denn sie hatte damit gerechnet, einen Menschen vor sich zu sehen. Da irrte sie sich. Was sich da in der Dunkelheit deutlich abzeichnete, konnte kein Mensch sein, Es war einfach zu breit, auch sehr hoch, aber es nahm noch in der Breite zu und wuchs zu einem gewaltigen Schatten heran.
Lucy schaute trotz ihrer Angst genau hin.
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