0947 - Geballte Wut
Abstiegs roch er das Ozon in der kühlen unterirdischen Luft, sah das Schattenspiel der Explosionsherde an den Wänden der Metro-Station. Ihm war, als eile er geradewegs in die Hölle.
Großer Gott, was geschah hier nur?
Erst der Angriff auf den alten Musikanten, dann die brutale und nicht minder rätselhafte Ermordung dieses Touristen aus England, ganz zu schweigen von der Technik, die seit Tagen einem eigenen Willen zu folgen schien und sich bisher jeglichen Reparaturversuchen widersetzte.
Und jetzt auch noch Vandalismus?
Auf dem vorsintflutlich anmutenden Monitor in seiner kleinen Aufseherkabine hatte Thierry gesehen, wie die vierköpfige Gruppe die Station betreten und sich in ihr auffällig seltsam verhalten hatte. Und dann kamen die Explosionen. Zunächst - und Thierry wusste, wie bescheuert das klang - war es, als sei eine Wand aus gleißendem Licht inmitten der vier Personen erschienen, eine wabernde Fassade, die vom Boden bis zur Decke reichte und aussah, wie seitlich angestrahlte, klare Flüssigkeit. Dann waren die Deckenlampen durchgebrannt - eine nach der anderen, und jede so unerklärlich wie die vorherige. So spontan und so gründlich, als habe man in ihrem Inneren kleine Granaten gezündet.
Als Thierry den Fuß der Treppe erreicht hatte und um die Ecke auf den Bahnsteig bog, sah er sie. Einer der vier Kerle lag auf dem Boden und schüttelte den Kopf, als wolle er eine Benommenheit von sich abschütteln, während sich zwei andere - ein junger Bursche und eine zweite Gestalt, die Thierry den Rücken zuwandte - um ihn kümmerten und ihm wieder auf die Beine halfen. Der Vierte, ein sichtlich älterer Mann mit weißer Hose, weißem Jackett und einem Hemd, das in den Augen des Stationsaufsehers so zu rot war, wie es zu tief aufgeknöpft war, fummelte seltsam gehetzt an einer Art Amulett herum, das er an einer langen Kette um den Hals trug. Sein Haar war zerzaust, seine Stirn mit einem dünnen Schweißfilm bedeckt, doch in seinen Augen glühte ein Feuer der Entschlossenheit, das Thierry schlucken ließ.
Von einer Wand aus Licht keine Spur.
»Was zum Geier…«, murmelte Thierry keuchend und ahnte, dass seine Probleme eben erst begonnen hatten.
Der Mann wandte sich zu ihm um. »Sie müssen die Stationsaufsicht sein«, grüßte er und streckte die rechte Hand aus. »Robin hat mir von Ihnen erzählt, Monsieur… Desjardins, richtig?«
»Äh«, erwiderte Thierry überrumpelt. Eine der Mülltonnen hatte Feuer gefangen, wie er gerade bemerkte, und die aus dem metallenen, runden Gefäß bleckenden Flammen beanspruchten den Großteil seiner Aufmerksamkeit. Außerdem hing eine der elektronischen Anzeigetafeln oberhalb des Bahnsteigs plötzlich nur noch an einem statt zwei Trägern und schwankte bedrohlich.
Der Fremde schien sich an beidem nicht zu stören. »Monsieur, ich fürchte, wir müssen uns unterhalten. Und was ich Ihnen zu offenbaren gedenke, dürfte Sie schocken. Gelinde gesagt.«
***
Zamorra.
So hieß er also. Ein Wissenschaftler von der Loire, befreundet mit dem Lyoner Polizeibeamten, der den ersten Mord beobachtet hatte. So weit, so nachvollziehbar. Doch was den Rest seiner Geschichte anging…
Thierry seufzte, rieb sich mit den Händen über das Gesicht und gab auf. Es war ein Unding, diesem Wust an Absurditäten und Räuberpistolen auch nur zu versuchen, einen Sinn abzugewinnen. Amoklaufende Hexen, ein verwunschener Ort unter dem Fundament der französischen Metropole - das war der Stoff, aus dem Kinofilme genäht wurden. Nicht die Wirklichkeit.
Dennoch konnte der stämmige Mitarbeiter der RATP das Gefühl nicht abschütteln, alles andere als verschaukelt zu werden. Und das ängstigte ihn mehr als alles, was Zamorra ihm in der vergangenen Viertelstunde als Wahrheit aufgetischt hatte.
Mittlerweile war der Professor wieder an den Platz zurückgekehrt, an dem er angeblich gestanden hatte, als dieses Amulett seiner Aussage nach den magischen Schutzschirm aktivierte. Er wollte herausfinden, was die Reaktion des absonderlichen Schmuckstücks getriggert hatte - unter gleichen Bedingungen.
»Sagen Sie, Thierry«, murmelte Zamorra, ohne von seinen seltsamen Untersuchungen aufzublicken, »haben Sie eine Vermutung, was hier sein könnte? Alles, was ich sehe, sind Werbeplakate, Plastikstühle, Mülltonnen und… Hallo! «
Nach dem letzten Wort stieß der Professor einen leisen Pfiff aus. Dann trat er an die Wand, die Hände vor der Brust ausgestreckt.
»Was ist es, Zamorra?«, fragte einer seiner
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