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0947 - Geballte Wut

0947 - Geballte Wut

Titel: 0947 - Geballte Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Borner
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gesamten Situation erinnerte. Öllampen rissen Leuchtinseln in die Dunkelheit und nahmen dem Loch unterhalb der Stadt ein wenig von seiner Bedrohlichkeit. Mittlerweile war es beeindruckend groß geworden, und es wuchs mit jedem neuen Schaufelstich, mit jedem neuen Hieb der Spitzhacken und mit jeder schmutzigen Hand, die sich ins Erdreich bahnte und dem Fortschritt einen Teil dieses Planeten abtrotzte.
    Schöner Fortschritt, wenn er in die Hölle führt , dachte Gaston und holte abermals mit seiner Hacke aus. Es stimmt wirklich, was sie in den Straßen sagen: Dies ist der Ort des Teufels. Kein Mensch sollte sich an ihm aufhalten.
    Der Dreißigjährige arbeitete seit zwei Wochen für Chagnaud, denn er brauchte das schnelle Geld. So sehr, dass er dafür Leib und, wie er fürchtete, Seele aufs Spiel setzte. Zumindest die körperlichen Schäden hatte er nämlich bereits an sich festgestellt. Seit Tagen hustete er sich Nacht für Nacht in den Schlaf, und ihm war, als könne er selbst mit stundenlangen Wannenbädern den muffigen, modrigen Geruch der abgestandenen Luft nicht abwaschen, in der er hier unten arbeiten musste. Chagnaud mochte ein Edelmann sein und für die Dienste, die er verlangte, gut bezahlen - aber er scherte sich einen Dreck um die Bedingungen, unter denen seine Angestellten diesen Sold verdienten.
    Gaston zwang sich, nicht an seine so unwirklich anmutende Umgebung zu denken. Nur an die Arbeit. Was half es ihm, zu wissen, dass das Erdreich nah und die Freiheit fern war? Dass die Enge, in der er tagtäglich die immer gleichen Bewegungen verrichtete, ihn jederzeit erdrücken und unter Tonnen von Dreck, Stein und Wassermassen begraben konnte? Klaustrophobie war etwas für Männer, die sie sich leisten konnten. Doch wenn Gaston ihr nachgab, endete er noch wie der arme Chaineux, der sich vor drei Tagen in einem Anfall von Panik seine eigene Spitzhacke in den Schädel gerammt hatte.
    Allerdings…
    Manche flüsterten, es sei keine Panik gewesen. Sondern das Wissen um das, was noch kommen würde.
    Manche flüsterten von den Träumen, die sie seit Wochen heimsuchten. Träume voller Gewalt und Tod und Abscheulichem. Chaineux, hieß es, habe ebenfalls geträumt.
    Unsinn!
    Gaston grub weiter, schüttelte den Kopf und dachte ans Geld. Nur ans Geld.
    ***
    1909
    »Himmelherrgott!«
    Chagnaud ließ die Kladde, in der er gerade geblättert hatte, auf den breiten Schreibtisch fallen und funkelte sein Gegenüber an. Ein kleiner Teller mit Käsebroten stand am Rande des Tisches, flankiert von einer Kristallkaraffe klaren, kühlen Wassers. Doch Chagnauds Gesichtsausdruck machte überdeutlich, wie wenig ihm momentan der Sinn nach Nahrungsaufnahme stand. Und die Schuld dafür stand direkt vor ihm.
    Chagnaud schäumte vor Wut. Was er gerade gehört hatte, war unglaublich, war Sabotage, war…
    »Vollkommener Blödsinn! Bitterster Aberglaube! Geäußert von Menschen, deren Intelligenz nicht einmal ausreicht, sich ohne Anleitung die Schuhe zu binden. Ich bitte Sie, Montresor, das kann nicht Ihr Ernst sein!«
    Jean Montresor ließ den zornigen Ausbruch ohne sichtliche Regung an sich abprallen und wartete, bis sein Arbeitgeber geendet hatte. Dann ergriff er wieder das Wort. »Ich bin nur der Bote, Monsieur Chagnaud. Ich kann Ihnen nicht mehr sagen als das, was mir aufgetragen wurde. Und Ihre Arbeiter sagen klipp und klar…«
    »Ja, was? He? Dass sie die Hölle gefunden haben, gleich unterhalb von Paris? Machen Sie sich nicht lächerlich, Mann!«
    Vor den ausladenden Fenstern bahnten sich die Strahlen der Sonne mühsam ihren Weg durch die dichte Wolkendecke, die den Himmel über der Stadt seit Tagen bedeckte. Wann immer ein Strahl es auf die Dächer der Kirchen und anderen Gebäude schaffte, leuchteten diese in neuem Glanz. Traf einer die Seine, schienen mit einem Mal Unmengen von funkelnden Diamanten auf dem Wasser zu treiben.
    Jean Montresor seufzte hörbar. Er schien zu wissen, wie er Chagnaud zu nehmen hatte - wann er reden, und wann er besser schweigen sollte.
    »Nein.« Der angesehene Architekt schüttelte so heftig den Kopf, dass seine Nackenwirbel hörbar knackten. »Nein! Nicht mit mir.«
    »Aber die Männer, Monsieur!«
    »Die Männer. Die Männer!«, äffte Chagnaud ihn nach. »Sagen Sie Ihren Männern Folgendes: Ich bin kein Kräuterweiblein aus der Provinz, sondern der bekannteste Konstrukteur von Bauwerken in der gesamten Region. Ich verkehre mit Hoheiten und Präsidenten; ich besuche Abendgesellschaften, deren Existenz

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