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0947 - Geballte Wut

0947 - Geballte Wut

Titel: 0947 - Geballte Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Borner
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darin: die flachen, gleichmäßigen Atemzüge eines Schlafenden. Eines Träumers.
    Nichts regte sich mehr in dem wie von der Zeit vergessen wirkenden Zimmer im Irgendwo. Selbst das Licht, das sehr gedämpft durch die Brokatvorhänge fiel, um mit den Staubpartikeln zu spielen, die träge in der Luft umher glitten, schien jegliche Anstrengungsversuche aufgegeben zu haben und nur noch Dienst nach Vorschrift zu absolvieren.
    Einzig in den Schatten - dort, wo aufmerksame Beobachter eine abgewetzte Chaiselongue hätten ausmachen können - hob und senkte sich der Brustkorb eines Mannes im Takt seiner Atmung. Sein faltiger, blasser Mund stand offen, und seine geschlossenen Lider zuckten so heftig, als entscheide sich hinter ihnen gerade das Schicksal der freien Welt…
    ***
    1908
    Das Gebilde sah aus wie ein Leviathan aus Höllentiefen. Dutzende Meter breit und Dutzende Meter lang behauptete es sich an einem Ort, an dem es nach allen Gesetzen der Logik und der Natur nichts zu suchen hatte - trotzig, selbstbewusst, bedrohlich.
    Die Männer, die über den hölzernen Steg gekommen waren, um auf den Streben und Kanten seines bizarren Rückens zu stehen, spürten die Irrationalität der Situation, und waren doch stark genug, zu schweigen. Und zuzuhören.
    »Messieurs, Sie sind heute Nacht Vorboten einer neuen Ära«, schrie Chagnaud, der gut vierzigjährige Architekt und Vorarbeiter dieses Ungetüms, über das Tosen des Gewittersturms hinweg, das den Pariser Tageshimmel zur Nacht hatte werden lassen, als wolle sogar die Sonne die Augen vor dem verschließen, was in der Seine geschah. »Wie Sie wissen, ist es uns endlich gelungen, den nächsten Bauabschnitt auf die gewünschte Temperatur von minus fünfundzwanzig Grad Celsius einzufrieren.«
    »Möchte nicht wissen, wie«, murmelte einer der Männer, ein grobschlächtiger Kerl in gestreiftem Hemd und Arbeitshose, seinem Nachbarn ins Ohr.
    »Wie wohl?«, gab dieser ebenso leise zurück und blickte Hilfe suchend in Richtung von Notre Dame, das hinter einem Vorhang aus Regentropfen zu verschwinden schien. »Durch einen Pakt mit Satan selbst. Kein Wesen, das von einer Frau geboren wurde, vermag es, den Grund der Seine einzufrieren! So etwas ist widernatürlich.«
    » Vraiment , Bruder.« Der Erste nickte. »Keines außer Chagnaud. Was sagt das über ihn aus, he?«
    Der Betreffende hatte von dem kurzen Austausch gar nichts mitbekommen. Mit absoluter Selbstverständlichkeit stand er auf dem Rücken seiner bizarren Konstruktion, die sich aus den wogenden Fluten des Flusses erhob, und gestikulierte mit beiden Armen, um dem wilden Haufen aus Tagelöhnern, Ex-Sträflingen und Gelegenheitsaushilfen zu erklären, was er von ihnen erwartete: nicht weniger als den Einsatz ihres jämmerlichen Lebens.
    »Diese Senkkästen, Messieurs, werden Sie gleich in die Tiefe befördern.« Das Raunen, das bei diesen Worten durch die Menge ging, ignorierte Chagnaud genauso wie die ängstlichen Blicke der Männer. Selbstsicher klopfte er mit den Fingerknöcheln gegen die Wand eines der beiden metallenen, fahrstuhlähnlichen Behältnisse, die er extra für diesen Anlass entworfen hatte. »Bis hinab zum Grund der Seine. Und dort werden Sie graben, meine Herren. Graben und graben und graben. Und wenn Sie genug gegraben haben, bauen wir die Station, auf der wir uns gerade befinden, ab und wenige Meter weiter vorn wieder auf - und das Spiel beginnt von Neuem.« Er grinste triumphierend, und hinter ihm riss ein Blitz Licht ins Dunkel, als habe er auf diesen Moment gewartet. »Sie sehen also, Messieurs: Wenn Sie sich geschickt anstellen, ist hier noch jahrelang Arbeit für Sie gegeben. Enttäuschen Sie mich nicht!«
    Abermals schlug er gegen die vielleicht drei mal drei Meter messende Fahrkabine. »Und nun steigen Sie ein. Ihr erster Tag unter Tage hat soeben begonnen! Na los! «
    ***
    1909
    Und aus der falschen Nacht auf dem Gerüst wurde die ewige Nacht unter der Erde - und unter Tausenden von Kubikmetern Flusswasser. Es war kalt hier, wie in einem Grab, und die Senkkästen, die die Leiber der Todgeweihten Tag für Tag an ihren neuen Bestimmungsort transportierten - gezogen von Männern, denen mit Vernunft gesegnete Gesellen nicht einmal im hellen Sonnenschein ihr Leben anvertraut hätten -, waren die Särge, in denen verging, was einst noch kraftvoll und mutig im Licht gestanden hatte.
    Wasser rauschte. Sie hörten es selbst unter Tage noch, ein konstantes Glucksen und Plätschern, das an die Irrationalität der

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