0947 - Geballte Wut
bildeten Wirbel und Formen, die sich sogleich wieder auflösten.
Etwas war da drin! Etwas, das nicht sein konnte. Nicht sein durfte .
Der Mann richtete sich wieder halbwegs auf. Dann hob er die linke Hand, streckte den Arm über die Wanne und ließ sie langsam von links nach rechts gleiten. Und die Flüssigkeit reagierte. Sie wechselte die Farbe, die Schwaden verfestigten sich, und für einen Moment schien es, als seien dort unten zwei Augen - glühende, feurige Opale in der Finsternis, Augen voller Hass und Hunger -, dann aber verging die Illusion.
An ihre Stelle trat das Bild einer belebten Straße. Des Boulevard du Palais.
Vier Menschen schlenderten über den breiten Bürgersteig und in Richtung der Metro-Station: zwei optisch junge Burschen, wenngleich nur einer von ihnen seinen Jahren entsprechend aussah, eine junge Frau von ebenfalls trügerischer Jugend - und ein Mann in einem weißen Anzug und mit weinrotem, weit aufgeknöpftem Hemd, durch dessen Öffnung man ein Amulett im Glanz der morgendlichen Sonne funkeln sah.
Für einen Moment war dem Beobachter an der Wanne, als müsse er sich vor diesem Schmuckstück in acht nehmen. Als könne das extravagant wirkende Ding an der Kette seinen gesamten Plan, seine Hoffnung zunichtemachen.
Dann schüttelte er den Kopf. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt für Zweifel. Er musste handeln, bevor es endgültig zu spät war.
Der Beobachter schloss die Augen, konzentrierte sich, und steckte all seine Energie in die nach wie vor ausgestreckte Hand. Und auf der Straße in der Wanne ging der Amulettträger in die Knie…
Stille.
Und darin: »Gaston?«
Die zweite Stimme. Endlich. Der Beobachter ließ die Hand sinken, öffnete die Augen, wandte sich um. »Es… Es gelingt mir nicht, Meister. Er ist der Falsche.«
Ein Schmatzen aus den Schatten, fahrig und leer. Zittrige Klänge in der staubbedeckten Endlosigkeit des Zimmers. »Er muss es sein, Gaston«, beharrte der ungesehene Sprecher. »Wenn nicht… sind wir alle verloren!«
***
Im Schatten von Sainte Chapelle, der früheren Palastkapelle der ehemaligen königlichen Residenz auf der Île de la Cité war es kühl und angenehm. Er spürte die Steine des im Stil der Hochgotik errichteten sakralen Gebäudes im Rücken. Sie waren ihm Anker und Stütze, ein Stück Wirklichkeit in einer Welt, die jeglichen Realitätsbezug verloren zu haben schien.
Sein Kopf… Diese Schmerzen trieben ihn noch in den Wahnsinn. Ihm war, als halle das Echo des lautesten Geräusches, das zu hören er jemals das Unglück gehabt hatte, noch immer hinter seiner Stirn hin und her, und jede weitere Runde ließ sein Innerstes vibrieren und war wie ein grauenvolles, körperinternes Erdbeben.
Dann war Kathryne da.
Die äußerlich so junge Frau entstand aus den Farbwirbeln vor seinen Augen, wenig mehr als ein Gesicht. Und als er es sah, kam der Rest zurück. Nach und nach gewannen Schemen wieder an Kontur, wurden Kleckse zu Gegenständen, verwaschene Schatten zu den Umrissen vorbeiflanierender Touristen.
Zamorra atmete ein - zitternd, stockend. Aber mit neuer Kraft.
»Zamorra?« Kathrynes besorgter Blick hing auf ihm. »Zamorra, sag was! Was ist los? Bist du noch da?«
Er wollte nicken, doch schon der Gedanke daran, sich zu bewegen, ließ neue Übelkeit in ihm aufwallen. Mühsam öffnete er den Mund und krächzte: »Mir… geht's… bestens.«
Kathryne hob die Brauen. »Das hört man.«
»Ich hab doch gleich gesagt, dass wir einen Arzt rufen sollten«, erklang Dylan McMours Stimme irgendwo im Hintergrund. Es kostete den Professor einige Mühe, die Gestalt des ehemaligen Dämonentouristen aus den Schemen der Umgebung herauszusortieren, die sich erst nach und nach wieder der Wirklichkeit annäherten.
»Keinen… Arzt«, murmelte er und versuchte, abwehrend die Hand zu heben. »Wir… die wir aus der Quelle des… des Lebens getrunken haben, wer… den nicht mehr krank.«
»Mhm.« Dylan hörte sich nicht gerade überzeugt an. »Sieht man ja an dir.«
Immer wieder gingen Passanten an ihrer kleinen Gruppe vorbei. Zamorra konnte sich gut vorstellen, welche Gedanken ihnen bei seinem Anblick und dem seiner Begleiter durch den Kopf gingen: Ein mehr oder weniger ohnmächtiger Mann in den sprichwörtlich besten Jahren, auffallend extravagant gekleidet, der auf dem Bürgersteig vor der Kirche kauerte, wie der letzte clochard , und drei Jugendliche, die ihn umsorgten.
Na ja.
»Ich… weiß nicht, was gerade los war«, fuhr er fort und spürte, wie
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