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0947 - Geballte Wut

0947 - Geballte Wut

Titel: 0947 - Geballte Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Borner
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diesen Taugenichtsen dort unten die Tränen des Neids in die Augen treiben würde, wenn sie von ihnen wüssten. Ich bin Léon Chagnaud, Herrgott noch mal, und ich weigere mich, diesen Stuss, den Sie mir da vorsetzen, auch nur zu denken - geschweige denn, mich von ihm in meinen Handlungen beeinflussen zu lassen. Klar?«
    Er hatte sich derart in seinen Sermon reingesteigert, dass er nun, da er gesagt hatte, was er loswerden wollte, sichtlich außer Puste war. Rote Flecken erschienen auf seinen Wangen, und für einen Moment rang er nach Atem.
    Montresor nutzte diesen Moment. »Ihre Erfahrung und Ihren Stand in allen Ehren, Monsieur, aber die Männer werden diese Reaktion nicht akzeptieren.«
    »Sie werden es müssen!« Chagnaud brüllte. Die Scheiben, hinter denen die Seine langsam ihre Bahn zog, begannen zu wackeln. »Sagen Sie ihnen, sie sollen weitergraben oder ihre Sachen packen und verschwinden.« Er trat zum Fenster und deutete hinaus. »Das ist eine riesige Stadt, Monsieur Montresor. Da draußen warten genügend Männer, die die Posten meiner Arbeiter nur zu gern einnehmen, wenn diese keine Lust mehr verspüren oder sich an Ammenmärchen aufhalten, anstatt ihrer Pflicht nachzugehen. Zu gutem Geld sagt in Paris niemand Nein, der noch alle Tassen im Schrank hat.«
    »Ja, aber…«
    »Kein Aber! Wer nicht arbeiten will, fliegt. Fristlos.« Chagnaud war zu Jean getreten und fuchtelte ihm nun mit erhobenem Zeigefinger vor der Nase herum. In seinem Blick lag pure Wut. »Sie sollten sich schämen, mir mit einem derartigen Mumpitz unter die Augen zu treten, Montresor! Für wen halten Sie sich, he? Für einen Drehbuchautor von Lumiére?«
    ***
    1909
    Also buddelten sie weiter. Wer klug - oder feige - genug war, ging und wurde ersetzt. Sie alle waren ersetzbar. Auch die, die des Nachts nicht mehr schliefen, weil sie die Träume fürchteten, und sich am Tag in ihre Hacken stürzten oder aus heiterem Himmel mit dem Kopf gegen die Wand des Tunnels liefen, bis die Schädelknochen brachen. Sie buddelten wider besseres Wissen. Wider den Instinkt, der ihnen mit jedem neuen Meter, den sie ins Innere der Erde schnitten, deutlicher sagte, dass sie sich an etwas vergingen, Frevel taten.
    Der Instinkt, der ihnen sagte, dass sie sterben würden, wenn sie nicht umkehrten.
    Nun, sie kehrten nicht um.
    Und eines Tages… bekamen sie die Quittung dafür.
    ***
    » Nein! «
    Der Schrei hallte von den Wänden wider und brachte die kristallenen Portgläser in den Vitrinen zum Zittern. Fiebrige Augen starrten in die ewig scheinende Dämmerung aus Schatten und gedämpftem Tageslicht, als suchten sie Halt in einem Chaos, in dem es keinerlei Halt mehr geben konnte. Geben durfte .
    Eine Standuhr tickte. Die seltsamen Augen in der Zinnwanne glommen hasserfüllt. Staub rieselte.
    »Nein! Nein, ich…«
    Die Stimme wurde zunehmend leiser, jedes weitere Wort ein verlorener Kampf gegen die Mächte der Erinnerung und des Gewissens. Wie an all den Morgen zuvor.
    Gaston reagierte sofort, das Handeln von Übung bestimmt - und von der immer wieder aufs Neue aufrichtigen Sorge um das Wohlergehen seines Mentors und Kollegen. Des Mannes aus anderer Zeit.
    Irgendwo jenseits der Brokatvorhänge, der dreifach verglasten Fensterscheiben und der holzvertäfelten Wände mochte eine Welt existieren, in der Gut und Böse genau definiert und Probleme lösbar waren. Eine Welt voller Ja- oder-Nein-Entscheidungen, ohne Ja-aber. Gaston entsann sich ihrer dunkel. Sie hatte längst jegliche Bedeutung verloren. Freiheit war ein Wort, das für Menschen bestimmt blieb, deren Weste rein und deren Verstand unbefleckt von der Wahrheit war. Glücklichen Menschen.
    »Es ist gut«, flüsterte Gaston. Er hatte den Alten mit den Armen umschlungen, stützte ihn mit seinem Brustkorb und wog ihn sanft vor und zurück, wie ein Vater sein Kind. »Es war nur ein böser Traum. Nichts als Erinnerungen.«
    Manchmal genügte das. Worte und Nähe, die Vortäuschung von Zuversicht und Normalität. Doch eine innere Stimme sagte Gaston, dass diese Tage vorüber waren. Wie überhaupt bald alles vorüber war, wenn nicht…
    »Meine Schuld!«, rief der Alte mit krächzender, schwacher Stimme. Die Worte waren vertrocknete Zweige, die auf dem Waldboden zerbrachen, wenn der Wind sie traf. »Meine Schuld…« Es klang wie das späte Geständnis eines Mörders kurz vor dem Schafott.
    Gaston schluckte, suchte nach einer Erwiderung und erkannte, dass es keine mehr gab. Nichts, was er sagen konnte, änderte

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