0949 - Das Kind, das mit den Toten sprach
traurig bin, weil ich mich ohne ihn so allein fühle. Ich wäre gern bei ihm, das sage ihm ruhig. Ja. Tust du das?«
Wieder bewegte Caroline die Lippen, aber die Antwort verstand ich abermals nicht.
»Wann bringst du mich denn zu ihm? Wann…?«
Ich ging noch einen Schritt auf den Spiegel zu.
Die Antwort wurde gegeben, nur anders, als ich es mir vorgestellt hatte.
Plötzlich löste sich die rechte Hand aus dem Spiegel. Sie griff so schnell zu, daß ich es mit den Augen kaum verfolgen konnte. Hätte Caroline dabei den Arm gereckt, so hätte sie auch mich erreichen können, aber das wollte sie nicht. Für sie war Marion wichtiger, deren Gelenk sie umklammert hielt.
In dieser einen Sekunde, in der ich die Szene mitbekam, stand ich wie erstarrt vor dem Spiegel. Dann aber kehrte das Leben zurück, es war der harte Adrenalinstoß, der mich durchzuckte und auch dafür sorgte, daß ich endlich reagierte.
Ich wuchtete mich auf den Spiegel zu. Gleichzeitig wurde auch Marion Bates von ihrem Platz gezerrt. Wenn mich nicht alles täuschte, schwebte sie sogar über dem Boden, so hart und klammernd war der Griff dieser fremden Person gewesen.
Ich wußte, daß Caroline ihre Freundin in die andere Welt zerren wollte. Alles war mir klar, ich wußte ferner auch, daß ich sie nur mit dem Einsatz meines Kreuzes stoppen konnte, aber ich hatte Caroline unterschätzt.
Bevor ich das Kreuz als Gegenwaffe einsetzen konnte, fauchte mir aus dem Spiegel oder dem aufzuckenden Maul etwas entgegen, das mich wie ein Feuerstrom erwischte. Ich schaffte es nicht mehr, den Kopf rasch genug zur Seite zu bringen. Etwas rann heiß über meine Haut hinweg, und in einem Reflex brach ich vor dem Spiegel in die Knie. Durch die eigene Wuchte kippte ich nach vorn, prallte mit der Schulter gegen die Wand unter dem Spiegel, hörte einen verzweifelten Schrei, und als ich mich wieder in das Zimmer wälzte, um sofort auf die Füße zu schnellen, da sah ich weder Caroline noch Marion.
Beide waren verschwunden.. Die eine hatte die andere geholt, und ich hatte versagt!
***
Daran hatte ich zu knacken. Unbeweglich stand ich vor dem verdammten Oval mit der dunklen Fläche und wußte nicht, ob ich explodieren oder aufgeben sollte. Ich starrte nur gegen dieses düstere und matte Etwas, während sich mein Gehirn leer anfühlte.
Plötzlich wurde es hell im Zimmer. Ellen Bates hatte das Deckenlicht eingeschaltet. Ich zwinkerte, drehte mich um und sah die Frau neben dem Lichtschalter stehen. Sie war nur mehr ein zittriges Bündel. Wenn sie Luft holte und atmete, hechelte sie nur noch, wobei es mir vorkam, als wollte sie zugleich sprechen.
Ich mußte zu ihr gehen, denn es stand zu befürchten, daß sie zusammenbrach. Die rechte Handfläche lehnte ich gegen ihre Schulter und drückte den Körper gegen die Wand neben der Tür. Das Gesicht war schweißnaß. Aus den Augen sickerten Tränen. Es war besser, wenn ich sie aus dem Zimmer brachte, ließ die Tür aber offen und führte sie in den Wohnraum, wo noch immer der Whisky in den Gläsern schimmerte. In meinem mehr als in ihrem.
Ich gab Ellen einen Schluck zu trinken. Sie hustete danach, aber ihr Gesicht bekam ein wenig Farbe. Erst als sie saß, schien sie überhaupt zu merken, wo sie sich befand, und sie schaute sich etwas verwundert um. Dann sah sie mich, und mit meinem Anblick kehrte bei ihr auch die Erinnerung zurück.
»Nein, nein, nein!« Das erste Wort hatte sie leise gesprochen, das zweite schon lauter, und das dritte hatte sie förmlich aus dem Hals geschrien. Dann klammerte sie sich an meinen Jackettschößen fest.
»Sagen Sie, daß es nicht wahr ist, daß es nicht stimmt. Verdammt noch mal, sagen Sie das!«
Ich konnte es nicht. Ich brachte es nicht übers Herz, die Frau zu belügen, hob die Schultern, und diese Geste begriff sie bereits als Antwort.
»Dann ist Marion doch weg, Mr. Sinclair?«
»Leider.«
»Und ich habe nichts geträumt?«
»Nein. Ebensowenig wie ich.« Die Nachwirkungen merkte ich noch, denn an der Stirn fühlte sich meine Haut etwas verbrannt an, und auch einige Haarspitzen waren verkohlt.
Ellen Bates litt unter meiner Antwort. Sie brauchte eine Weile, um mit der Lage zurechtzukommen, die so völlig neu für sie war. Nicht allein, daß ihre Tochter so plötzlich verschwunden war, es ging auch noch um das Wie. Sie hatte ja nicht das Fenster geöffnet, um in die dunkle Nacht zu klettern. Nein, jemand hatte sie geholt. Ein Wesen, aus einem Spiegel kommend, vielleicht jemand, der schon
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