0949 - Das Kind, das mit den Toten sprach
dem Bett, und ich bewegte mich behutsam zurück, um sie nicht zu behindern, wenn sie das Bett verließ, um auf den Spiegel zuzugehen.
Neben Ellen Bates blieb ich stehen. Nur mühsam bewahrte die Frau die Beherrschung. Sie wirkte wie jemand, der zwar etwas Bestimmtes sieht, dies aber nicht akzeptieren will, weil es einfach nicht in seine Welt hineinpaßte.
Zum Glück sprach sie nicht, so daß ihre Tochter nicht gestört wurde, die sich von nun an bewegte wie eine Schlafwandlerin. Mit einer Sicherheit, die überraschte. Sie hatte den Fußboden neben dem Tisch erreicht, drehte sich und ging die ersten Schritte vor, wobei sie einem kleinen Tisch mit traumwandlerischer Sicherheit auswich, der in der Nähe stand.
Zwar hatte sie den unmittelbaren Bereich der Lampe verlassen, es war uns aber trotzdem möglich, noch ihr Gesicht zu sehen. Das zeigte keine Angst, keine Furcht vor dem Neuen, Rätselhaften, es war einfach nur glatt, und uns fielen auch die geöffneten Augen auf, obwohl kein Leben in den Augen stand und sie starr nach vorn glotzten.
In vielen Karikaturen werden Schlafwandler immer auf eine bestimmte Art dargestellt.
Die Arme erhoben und vorgestreckt. Sie jedoch, Marion Bates, ging ganz normal, die Arme hingen zu beiden Seiten des Körpers herab und pendelten beim Laufen nicht mit.
Ihr Ziel war der dunkle Spiegel im Blattgoldrahmen und damit auch die rätselhafte Caroline.
»Wollen Sie denn nichts tun, Mr. Sinclair?« zischelte Ellen Bates neben mir.
»Nein, ich werde sie nicht aufwecken.«
»Das meine ich nicht. Sie wird in ihr Unglück laufen.«
»Abwarten. Tun Sie nichts, was Ihre Tochter stören oder aus dem Gleichgewicht bringen könnte. So etwas kann fatale Folgen haben, da sollten sie an Ihr Kind denken.«
Sie nickte nur.
Marion hatte die Hälfte des Wegs hinter sich gebracht. Ganz am Rande fiel mir auf, daß die Schleife wieder in ihrem Haar steckte, als hätte sich Marion für einen bestimmten Besuch vorbereitet.
Sie behielt die Richtung bei. Und sie hätte zumindest unsere Schattenrisse nahe der Tür sehen müssen, aber darum kümmerte sich die Zwölfjährige nicht.
Ihr Interesse galt einzig und allein dem Spiegel, der nun zu einem düsteren Gemälde geworden war, denn trotz der hellen und starren Haut gab Caroline eine düstere Aura ab, die auch ich spürte.
»Gleich ist sie da, Mr. Sinclair…?«
»Tun Sie nichts.«
Ellen tat auch nichts, aber ich hörte sie schon schwer atmen, wie jemand, der kurz vor dem Weinkrampf steht.
Es war am besten, wenn wir warteten, und wir schauten auch zu, wie Marion den letzten Schritt in Angriff nahm. Ebenso steif wie den ersten, dann aber stoppte sie.
Jetzt stand sie dicht vor dem Bild, starrte es an.
Beide wußten wir nicht, ob sie es überhaupt sah oder ob sie nur fühlte, daß sich dort etwas abzeichnete, doch als sie den Namen der anderen aussprach, da klang ihre Stimme plötzlich weich, als wäre sie heilfroh darüber, das Ziel erreicht zu haben. Weich und auch erleichtert.
»Caroline – endlich!«
Ich lauerte auf die Antwort aus dem Bild. Dabei konzentrierte ich mich auf den kleinen Mund, aber es war nichts zu hören.
»Willst du mir von Dad erzählen?« Diese Frage überraschte Ellen mehr als mich. Ich hörte sie leise aufschreien und drehte mich. Die Frau ging zurück. Sie preßte sich gegen die Wand und drückte auch ihre Hand gegen die Lippen, als wollte sie ihre eigenen Worte sofort stoppen.
Als sie meinen schon hypnotischen Blick sah, deutete sie ein Nicken an, und ihre Hand sank nach unten. Nur einen scharfen Atemzug saugte sie ein.
»Geht es dir gut? Hat er dir etwas für mich mit auf den Weg gegeben? Bitte…?«
Das Mädchengesicht im Spiegel verzog sich zu einem Lächeln.
Dann bewegte sich der Mund, aber wir hörten nichts. Dabei war ich sicher, daß Worte gesprochen wurden, nur zu leise für die Ohren der Menschen, die zu weit entfernt standen.
Jetzt lächelte Marion. Sie hatte die Antwort verstanden. »Ja, das ist gut, Caroline.« Sie legte eine Pause ein, und ich ärgerte mich darüber, daß ich die Worte nicht gehört hatte. Es war einfach ein Fehler, daß ich zu weit vom Spiegel entfernt stand, und deshalb entschloß ich mich, näher an ihn heranzugehen, wobei ich darauf achtete, so gut wie kein Geräusch zu machen.
Zum Glück stellte mir Ellen Bates keine Fragen, und ich kam näher an Marion heran, stoppte aber, als sie wieder ihren Mund bewegte und sprach: »Du kannst ihm bestellen, daß ich ihn lieb habe und sehr
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