0949 - Das Kind, das mit den Toten sprach
Wenn ich den Kopf nach rechts drehte, sah ich die nicht geschlossene Tür. Neben ihr hatte ich den Spiegel auf den Boden gestellt und ihn so gekippt, daß er an der Wand seinen Halt gefunden hatte.
Im Schlafzimmer selbst hatte ich kein Licht gemacht, aber es floß durch die offenstehende Tür, und in seinem Schein malte sich auch das Oval des Spiegels ab.
Der helle Rahmen schimmerte golden. Ich dachte an die Dämonenfratzen, die jemand in das Material hineingeschnitzt hatte. Sie waren dunkler als der Rahmen und nicht mehr mit diesem Blattgoldanstrich übermalt worden.
Dann war da noch die Fläche. Geheimnisvoll und düster. Sie sah aus wie die Oberfläche eines dunklen Teichs bei Windstille.
Eigentlich hatte ich den Spiegel gar nicht anschauen wollen. Da er jedoch in meinem Blickwinkel stand, konnte ich nicht anders. Und es fiel mir auch schwer, den Blick abzuwenden. Der Spiegel war wie ein Magnet. So lag ich weiterhin im Bett und blickte ihn an.
Mir ging es gut. Zumindest redete ich mir dies ein. Ich brauchte nichts zu befürchten. Ich spürte auch, wie ich mich entspannte und den Eindruck bekam, als würde sich das Bett unter meinem Körper allmählich auflösen.
Ich flog zwar nicht weg, aber ich fühlte mich wie von starken Armen umfangen, die mich irgendwo mit hinnahmen. Zu einem Ziel, das weit, sehr weit entfernt war.
Eigentlich hätten mir längst die Augen zufallen müssen, nur war das noch nicht geschehen. Ich trieb dahin, ich war nicht wach, aber ich schlief auch nicht, sondern befand mich in einem Zustand zwischen den beiden anderen.
Das war kein Abtauchen in den Schlaf, aber ich hätte auch nicht mit jemandem sprechen können, der zu mir kam und etwas von mir wollte. Ich lag ziemlich erschlafft da, den Kopf noch in Richtung Spiegel gedreht, wobei ich die Fläche nicht sah, denn meine Augen waren mir zugefallen. Schwere Gewichte lagen auf den Lidern und schienen gleichzeitig noch mit Klammern verstärkt zu sein.
Es war meine Wohnung. Es war mein Zimmer. Alles war in diesem Fall okay. Ich hatte den Punkt der Erschöpfung erreicht, wo ich mich hätte wegtragen lassen können, tief in den Bereich des Schlafes hinein und auch in das das Traums.
Die Zeit existierte für mich nicht mehr. Die Erlebnisse der vergangenen Stunden waren in den Hintergrund gedrängt worden, aber ich merkte schon noch, daß ich in meiner Wohnung lag, und ich hörte plötzlich etwas, das die mich umgebenden Wälle aufweichte.
Geräusche…
Ich registrierte sie, aber ich schaffte es nicht, sie zu identifizieren.
Sie waren nicht laut, doch sie malträtierten mein Gehör. Sie waren einfach da, und sie schälten sich immer stärker hervor.
Nein, das waren keine Geräusche, das waren Stimmen.
Frauenstimmen.
Trotz meines Zustands wußte ich Bescheid. Ein unsichtbarer Helfer schien mich darauf aufmerksam gemacht zu haben, und ich lauschte diesen Stimmen weiterhin.
Sie bewegten sich in meiner Nähe. Als hätte ich Besuch bekommen, wobei sich dieser Besuch direkt neben meinem Bett aufhielt, in dem ich starr wie ein Toter lag.
Die flüsternden Stimmen durchdrangen meine Welt. Sie kamen aus weiter Ferne. Sie wurden herangetragen, als wollten sie mich streicheln. Sie erreichten meine Ohren, und ich war endlich in der Lage, etwas zu verstehen.
»Die Gefahr ist noch nicht vorbei!« sagte die eine Stimme. Sie klang etwas dunkler.
»Welche Gefahr?« Die Stimme war heller. Sie klirrte leise. Es war zu hören, daß sich die Fragerin fürchtete. Das alles bekam ich in meinem Zustand mit. Wahnsinn…
»Sie wollen dich.«
»Aber warum?«
»Ja, sie wollen dich. Sie hätten dich auch bekommen, aber ich habe dich gerettet.«
»Kann ich jetzt nicht mehr nach Hause gehen?«
»Nein, es wäre nicht gut.«
»Nie mehr?«
»Das weiß ich nicht. Vorläufig nicht. Du schwebst dort in einer Gefahr. Sei froh, daß ich dich geholt habe. So konnten wir den anderen ein Schnäppchen schlagen.«
»Wer ist das denn?«
»Böse Menschen, die nur Böses wollen. Deshalb müssen wir vor ihnen auch fliehen.«
»Werden sie uns verfolgen…?«
»Ich befürchte es.«
»Und dann?«
»Müssen wir eben schneller sein. Wir dürfen nicht warten, denn die geben nicht auf. Sie werden den Zugang finden, und dann müssen wir bereits verschwunden sein.«
»Kennst du denn einen sicheren Platz?«
»Ja.«
»Und wo?«
»Laß dich überraschen.«
»Nein, nein, das will ich nicht. Ich möchte wieder nach Hause. Ich will nicht länger…«
»Du mußt aber, Marion.
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