095 - Der leuchtende Schlüssel
fand sie aber verschlossen. Er nahm einen Bund Dietriche aus seiner Tasche und versuchte damit die Tür zu öffnen. Nach mehrmaligem Probieren schnappte das Schloß zurück. Zuerst leuchtete er mit der Taschenlampe die staubige Treppe hinauf und stieg dann nach oben. Auf dem Treppenabsatz sperrte ein Lattenverschlag die Wohnung ab. Auch diesen öffnete Smith mit einem Dietrich.
Ohne Durchsuchungsbefehl hatte er nicht das Recht, irgendein englisches Haus zu betreten, aber Surefoot kam es auf einen Rechtsbruch mehr oder weniger nicht an, wenn es sich um die Verfolgung eines Verbrechens oder manchmal auch nur um die Befriedigung seiner persönlichen Neugier handelte.
Endlich stand er oben in einem großen Raum, der außer einem eingebauten Kleiderschrank, einem Stuhl, einem Tisch, einem Ankleidespiegel und einem Waschtisch keine Möbelstücke enthielt. Ein viereckiger Teppich lag auf dem Boden, und an der Wand hing ein alter Öldruck, der die Hochzeit der Königin Viktoria darstellte. Er war billig eingerahmt und hing schief. Mr. Smith, der ein sehr ordentlicher Mann war, versuchte, das Bild geradezuhängen, und dabei stieß er gegen den Stuhl, und ein weißer Glacehandschuh fiel zu Boden. Smith nahm ihn auf und legte ihn auf den Tisch. Der weiße Handschuh hatte drei schwarze Streifen auf der Außenseite, und es steckte ein großer altmodischer Hausschlüssel darin.
Bemerkenswert war vor allem die Farbe des Fundes. Der Schlüssel war silbern angestrichen. Surefoot sah das unförmige Ding nachdenklich an. Ein Amateur hatte es bronziert, das sah er an der ungleich aufgetragenen Farbe. Am äußersten Ende war die Bronzierung wieder abgegangen, und das Eisen schimmerte durch. Der Schlüssel war viel benutzt worden.
Smith hielt ihn nahe an das elektrische Licht, konnte aber nichts Besonderes daran erkennen. Er verwahrte den Fund in der Tasche und setzte seine Nachforschungen fort. Die Tür zu dem Schrank war ein Teil der Holzverkleidung des Zimmers. Es fand sich kein Knopf und kein Handgriff daran, und das Schlüsselloch war so versteckt angebracht, daß man es erst suchen mußte. Selbst Surefoot, der in solchen Dingen Bescheid wußte, brauchte einige Zeit, bis er es fand.
Zuerst hielt er es für ein Yaleschloß, aber als er es dann mit seinem Taschenmesser untersuchte, stellte sich heraus, daß es ein ganz einfaches Schloß war. Im Schrank fand er einen Frack, einen Zylinder und einen Frackmantel. Auf dem Regal lagen Taschentücher, Wäschestücke, Socken, Krawatten und dergleichen mehr. Er durchsuchte die Taschen des Anzugs, konnte aber nichts finden, was auf die Persönlichkeit des Eigentümers schließen ließ. Ebensowenig entdeckte er ein Firmenschild auf der Innenseite des Rocks.
Sein weiteres Suchen förderte noch eine große Flasche teures Parfüm, ein Monokel an breitem, schwarzem Seiderband und einen verschlossenen Kasten zutage, aus dem er drei ausgezeichnet hergestellte Perücken nahm. Eine war in Silberpapier eingewickelt. Entweder war sie noch ganz neu oder eben erst aufgebessert worden.
Sorgfältig legte Smith die Gegenstände mit Ausnahme des Schlüssels und des Handschuhs wieder an ihren Platz zurück. Es war nicht gesagt, daß dies der Schlupfwinkel eines Verbrechers sein mußte. Wahrscheinlich fand alles eine harmlose Erklärung. Vielleicht gehörten die Sachen einem Schauspieler. Die Tatsache, daß Tickler auf den Treppenstufen saß und dem Gesang des Betrunkenen zuhörte, bedeutete zunächst nichts und würde vor Gericht auch keinen großen Eindruck machen.
12
Mary Lane atmete auf, als sie sich verabschieden konnte.
Sie wohnte in einem großen Häuserblock in der Marylebone Road und verfügte über drei kleine Zimmer und eine noch kleinere Küche. Aber hier fühlte sie sich zu Hause und unabhängig. Nur selten empfing sie Gäste und kaum Herrenbesuch, und auf keinen Fall lud sie für spät abends Besuch ein. Daher war sie etwas bestürzt, als ihr der Portier durch das Telefon sagte, daß eben ein Herr zu ihrer Wohnung hinaufgefahren wäre.
»Nein, ich habe ihn noch nicht gesehen«, erklärte der Mann auf ihre Frage. »Mr. Allenby war es nicht, aber er sagte, er kenne Sie.«
Zu ihrem Erstaunen klingelte gleich darauf Leo Moran an ihrer Tür.
»Es ist unverzeihlich von mir, daß ich Sie so spät noch störe, Miss Lane, aber es handelt sich für mich um eine äußerst wichtige und dringende Angelegenheit. Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse. Ihr Mädchen schläft schon?«
Mary
Weitere Kostenlose Bücher