0950 - Visionen des Untergangs
mir leid«, sagte Professor Zamorra und legte unwillkürlich sein Schinkenbrötchen zur Seite.
»Das braucht Ihnen nicht leidzutun, monsieur le professeur«, erwiderte Celine Henry. »Meine Mutter und ich, wir hatten ein schwieriges Verhältnis, wissen Sie. Nein, falsch, eigentlich hatten wir gar kein Verhältnis. Ich bin bei meinem Vater aufgewachsen, meine Mutter hat sich schon von uns getrennt, als ich noch ein Kind war. Sie wollte mich nie haben, da sie nur ihre Karriere im Kopf hatte. Das hat mein Vater mir immer erzählt. Na ja, kurz vor ihrem Tod scheint sie so etwas wie Reue gespürt zu haben, denn sie hat mir kistenweise ihre Sachen vermacht.« Celine lächelte bitter. »Die Kartons stehen aber noch heute bei mir im Keller, so wie die Spedition sie gebracht hat. Ich habe nicht einen davon angerührt, geschweige denn aufgemacht. Es interessiert mich einfach nicht. Ich hab's sogar längst bereut, dass ich das Zeug überhaupt angenommen habe, denn es nimmt mir nur Stauraum weg.«
»Hm. Das ist keine schöne Geschichte. Und Ihr Vater?«
»Der ist leider auch schon gestorben, vor vier Jahren, noch vor meiner Mutter. Pah, keine Ahnung, warum ich die Schlampe überhaupt noch so nenne.«
»Was hat denn Ihre Mutter getan, dass Sie sie so hassen?«
»Keine Ahnung. Nein wirklich, ich habe mich nie darum gekümmert, ich wollte es einfach nicht wissen. Sie war nicht existent für mich.«
Zamorra nickte langsam. »Wissen Sie, Celine, ich frage mich schon die ganze Zeit, ob ich Ihre Mutter vielleicht gekannt habe? Sie schien immerhin einem meiner alten Freunde nahe zu stehen - immer vorausgesetzt, dass der Irrwisch tatsächlich Ihre Mutter gemeint hat. Aber da bin ich mir ziemlich sicher. Und ich bin mir sicher, dass Ihre Mutter, wie Sie übrigens auch, hochgradig für außersinnliche Wahrnehmungen begabt war. Sie schwingen auf einer ähnlichen Wellenlänge wie sie. Der Irrwisch hat wohl nicht gewusst, dass Jaqueline tot ist und stattdessen Sie erwischt. Das ist übrigens auch der Grund, warum er seinen Namen nicht genannt hat. Er hat einfach vorausgesetzt, dass Jaqueline weiß, wer sich da meldet. Dumm gelaufen.«
Celine schaute erstaunt drein. »Irrwisch? Das Wort haben Sie jetzt schon zwei Mal erwähnt. Was meinen Sie damit?«
»Nun, dieses Flirren, das Sie wie einen Kolibri im Flug beschrieben haben, erinnert mich verdächtig an einen Irrwisch. So werden diese niederen Höllenwesen genannt. Sie haben keinerlei Macht, sind ausschließlich Diener höherer Dämonen. Jetzt schauen Sie mich nicht so an.« Er lächelte. »Und eben das irritiert mich ungemein. Ich kenne keinen Irrwisch persönlich. Und einen alten Freund habe ich schon zwei Mal nicht unter ihnen. Noch mysteriöser ist aber das Männergesicht, das Sie gesehen haben. Sie sagten, dass Sie es nicht erkannt haben, nicht wahr?«
»Ja. Ich habe den Mann noch nie gesehen. Ganz sicher.«
»Das Rätsel lässt sich im Moment nicht lösen. Der Beschreibung nach sagt mir der Kopf allerdings auch nichts. Mir fällt niemand ein, den ich mal gekannt habe und der so aussieht. Aber das will nichts heißen. Einer aus Ihrer Verwandtschaft ist er also nicht.«
Celine zögerte. »Ich weiß nicht. Nun, kann sein oder auch nicht. Ich habe einige Lücken, was meine Verwandten anbelangt, wissen Sie. Meine Mutter zum Beispiel ist in einem Waisenhaus in Paris aufgewachsen, hat mir mein Vater erzählt. Sie hat nie gewusst, wer ihre Eltern sind.« Celine schüttelte sich plötzlich. Zamorra sah Gänsehaut auf ihren Armen. »Unglaublich. Ich meine, wir sitzen hier und reden über Irrwische und Dämonen und die Hölle, als sei das die alltäglichste Sache der Welt. Das ist doch echt krass. Extrem abgedreht. Ich denke grade, dass ich irgendwie im falschen Film bin.«
Zamorra grinste. »Sind Sie ganz sicher nicht, Sie werden's schon noch sehen. Ich schlage Folgendes vor: Zuerst schauen wir, was das Internet über Ihre Mutter ausspuckt. Danach fahren wir zu Ihnen und öffnen diese Kisten. Wäre doch gelacht, wenn wir da nicht was Näheres rauskriegen würden.«
Im Internet stießen die beiden tatsächlich schnell auf eine Jaqueline Hardy. »Sie war Archäologin wie ich«, schnaubte Celine. »Ich kann's kaum glauben.«
»Ja, doch, und eine ziemlich bekannte dazu, wie's aussieht. Moment mal, hier, da, sehen Sie. Ihre Mutter hat für die Deutsche Archäologische Gesellschaft, kurz DGA, gearbeitet und unter anderem geholfen, die ehemalige Hethiter-Hauptstadt Hattuscha in Bogazkale
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