0951 - Die Exorzistin
zu erinnern. Es waren keine Angstschreie gewesen, sondern welche der Wut, des Zorns. Als wollte jemand aus einem Gefängnis befreit werden.
Gefangen hinter den dicken Mauern eines Klosters. Gab es das? Sie wußte es nicht. Jedenfalls waren die Nonnen immer sehr nett zu ihr gewesen, aber das konnte auch eine Täuschung sein.
Marion befand sich in der Zwickmühle. Sollte sie bleiben oder einfach aus dem Fenster klettern?
Durch die kalte und gläsern wirkende Welt laufen, über das Tor klettern und einfach aus dem Kloster verschwinden?
Wohin dann?
Zu John Sinclair und seinem Freund Suko. Sie fand die beiden Männer toll, denn sie hatten ihr geholfen, ihr den Glauben an die Welt wieder zurückgegeben.
Auf der anderen Seite dachte sie daran, daß die beiden Männer sie nicht aufnehmen konnten. Im Endeffekt würde ihr wohl nur das Heim bleiben. Als ihr dieser Gedanke kam, mußte sie schlucken.
Das Heim!
Eine grauenhafte Vorstellung. Erzieherinnen und Erzieher, die nur Strenge kannten und auf die jungen Menschen überhaupt nicht eingehen konnten. So hatte sie es mal gehört, auch darüber gelesen, und sie hätte nie gedacht, daß es ihr widerfahren konnte.
Dann lieber abhauen. Als Tramperin unterwegs sein. Sich durchschlagen oder versuchen, hier im Kloster zu bleiben.
Schreie!
Da waren sie wieder.
Bissig und wütend, schrill und quietschend, aber nicht voller Angst, und vielleicht sogar von einem Lachen begleitet. So ein Mittelding zwischen Weinen und Lachen, und das Mädchen am Fenster hatte sie jetzt noch deutlicher gehört.
Es hielt sich zurück und kam sich selbst vor wie ein Teil aus dem vereisten Garten dort unten.
Die letzten Schreie hatten etwas in ihr ausgelöst. Sie wollte auch nicht mehr den Koffer mitnehmen, sie würde hier verschwinden und von unterwegs John Sinclair anrufen, um ihm alles zu erklären. Er würde sie bestimmt verstehen.
Zum Glück hatte sie ihr Erspartes mitnehmen können. Mit den fast zweihundert Pfund würde sie sich für eine Weile über Wasser halten können. Was danach folgte, würde man sehen.
Marion Bates prüfte nach, ob die Handschuhe in den Taschen des Anoraks steckten. Sie waren da und der Schal ebenfalls. Nun begann Marion aus dem Fenster zu klettern. So nett konnten die Nonnen gar nicht sein, als daß sie noch länger hiergeblieben wäre. Und die Schreie hatten bestimmt ihren Grund.
Ihr Zimmer lag unten. Zum Glück. Da konnte sie vom Fenster aus in den Garten springen, auch wenn sie dabei auf der gefrorenen Erde landen würde.
Sie schaute nach unten. Eine freie Fläche war vorhanden. So würde sie nicht in irgendeinem Busch landen, dessen Zweige durch ihr Gewicht lautstark knackten.
Marion Bates stemmte sich ab. Sie fiel in die Tiefe - und landete gut. Zwar etwas hart, aber sie hatte sich nicht verletzt.
Es fing ja gut an. Für einen Moment konnte sie über ihre neue Lage lächeln. Jetzt brauchte sie nur noch zum Tor zu laufen und es zu überklettern. Ein etwas schlechtes Gewissen keimte schon in ihr hoch. Es gehörte sich einfach nicht, so mir nichts dir nichts zu verschwinden. Zudem hatten sich die Nonnen intensiv um sie gekümmert. Wenn sie jetzt einfach fortlief, zeigte das schon eine gewisse Undankbarkeit diesen Frauen gegenüber, die es ja nur gut gemeint hatten und ihr die Übergangsphase so angenehm wie möglich gestalten wollten.
Auf der anderen Seite waren die Schreie. Damit kam das Mädchen nicht zurecht. Es wäre vielleicht anders gewesen, wenn Marion eine normale Vergangenheit gehabt hätte. Das konnte sie nicht bestätigen, denn sie brauchte nur an das Schicksal ihrer Halbschwester und an das der Mutter und letztendlich auch an das des Vaters zu denken, um Schuldgefühle in sich aufzubauen. Da hatte sie sich eingekesselt gefühlt, umgeben von Feinden, mit deren Existenz sie überhaupt nicht zurechtgekommen war. Daran litt sie noch immer, und jetzt waren die Schreie in der Nacht Gift für ein Leben im ruhigen Fahrwasser.
Marion wollte auch weiterhin vorsichtig sein. Zwar hielt sie sich noch nicht zu lange im Kloster auf, aber sie wußte sehr gut, daß manche der Schwestern in der Nacht nicht schliefen und sich manchmal in der Kapelle aufhielten, wo sie in lange Gebete versunken waren.
So schien es auch jetzt zu sein. Die Kapelle befand sich rechts von ihr. Es war wirklich keine große Kirche, und zur »Größe« paßten auch die Fenster. Ziemlich klein und schmal, beinahe wie Schlitze, die von Marions Standort deutlich zu erkennen waren, denn
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