0951 - Die Exorzistin
Es rechnete sogar damit, die dunkle Fremde zu treffen. Vielleicht lauert sie mir auf, überlegte Marion, obwohl ihr das wiederum nicht so logisch erschien, denn es gab keinen Grund. Sie hatten sich bisher noch nie gesehen.
Versteckte sie sich im Wald?
Das konnte sein, aber es gab hierfür keinen Grund.
Und trotzdem blieb die Angst.
Die Dunkelheit war durch den hellen Himmel nicht so schlimm, wie es hätte sein können. Und so entdeckte das einsame Mädchen, als es den Wald erreicht hatte, die zahlreichen Lücken, die sich zwischen den Bäumen auftaten. Das lag zum einen an den doch relativ schlanken Gewächsen, zum anderen aber auch daran, daß die Bäume ihr Laub verloren hatten und eher wie blanke Stangen wirkten, die sich von einem sehr dunklen Boden abhoben, denn nirgendwo waren irgendwelche Schneeflecken zurückgeblieben.
Ein dunkler Boden, die dunklen Bäume, deren Astwerk sich gen Himmel reckte.
Die Straße führte hindurch.
Nicht immer schnurgerade. Sie durchschnitt eine wirkliche Stille, in der Marion die eigenen Tritte schon überlaut vorkamen, ebenso wie ihr Atem, der stoßweise aus dem Mund drang und ständig kleine Wolken vor den Lippen tanzen ließ.
Sie ging, aber nicht locker. Ihre Bewegungen waren unnatürlich steif. Auch ihren Kopf bewegte sie puppenhaft steif, wenn sie nach rechts oder links schaute.
Zu beiden Seiten sah sie die Galerie der starren Bäume. Die leicht glänzenden Stämme, als wären diese mit einer dünnen Schicht aus Eis überzogen.
Stille.
Gespenstische Ruhe!
Dunkelheit zwischen den Baumstämmen. Schatten, die sich nicht bewegten und eingefroren zu sein schienen.
Bis auf das plötzliche Toben der Vögel!
Marion wußte gar nicht, weshalb die Tiere sich so gestört fühlten. Es mußte aber einen Grund geben, und sie nahm die Schuld nicht auf sich, das stand fest.
Überhaupt wunderte sie sich, daß noch so viele Vögel in ihrer Heimat überwinterten. Die meisten zog es im Herbst nach Süden.
Jetzt tobten die Verbliebenen durch den Wald. Sie hatten auf irgendwelchen Zweigen und Ästen gehockt und waren durch irgend etwas erschreckt worden. Jetzt tobten sie. Ihre Schreie und Rufe hätten Marion normalerweise nicht gestört. In dieser dunklen Nacht aber und auch in dieser Stille hörten sie sich doppelt so laut an und auch gefährlich.
Marion war stehengeblieben. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt, schaute zum Himmel und auch in den Wald hinein.
Die Vogelschar stob durch das hohe Geäst der Bäume. Die Tiere wollten nicht aufhören zu schreien und zu protestieren, dann kam der Zeitpunkt, als sie gemeinsam wegflogen. Wie einen Schatten sah das Mädchen die Tiere davonfliegen, die sich alle dicht beisammenhielten.
Marion ging nicht mehr weiter. So etwas hatte die noch nie erlebt. Das wollte ihr einfach nicht in den Kopf. Sie gab sich nicht die Schuld an der Panik der Gefiederten, doch genau wußte sie es nicht.
Sie wußte gar nichts. Sie war irgendwie völlig fertig geworden, und sie spürte auch das Zittern in den Knien und die Gänsehaut auf ihrem Gesicht.
Wieder so ein Phänomen! dachte sie. Schon wieder. Ich ziehe wohl alles an. Das ist ja völlig unnatürlich. Das ist ja der blanke Wahnsinn! Immer passiert etwas, wenn ich in der Nähe bin, und es geschieht anscheinend grundlos, denn ich habe nichts dazugetan, gar nichts.
Marion stöhnte leise auf und wischte mit den Stoffhandschuhen durch ihr kaltes Gesicht.
Wieder war sie allein.
Von den Vögeln hörte und sah sie nichts mehr, aber sie wußte auch, daß die plötzliche Flucht einen Grund gehabt haben mußte. Marion fühlte sich nicht mehr schuldig. Der Grund konnte etwas anderes gewesen sein, etwas, das sich im Wald versteckte.
Sie wartete noch.
Sekundenlang konzentrierte sie sich einfach nur auf den Wald zu beiden Seiten und wartete förmlich darauf, Geräusche zu hören, die nicht dorthin paßten.
Marion Bates wurde nicht enttäuscht. Etwas klang aus dem Wald, und zwar ihr gegenüber.
Ein leises Knacken oder Brechen. Als hätte jemand einen Stock oder einen Ast zerbrochen. So etwas konnte auch durch die Kälte geschehen sein, durch die Spannungen im Holz.
Mit starren Blicken versuchte Marion, die Dunkelheit zu durchdringen. Marion wollte sehen, ob sich etwas zwischen den kahlen Stämmen verbarg oder bewegte.
Ihr Pech oder ihr Glück, denn sie sah nichts.
Dafür hörte sie etwas.
Knisternde und knirschende Geräusche, die entstanden, wenn jemand über gefrorenes Laub ging. Es klang geheimnisvoll
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