0951 - Die Exorzistin
zwängen konnte und schließlich die dicken Klostermauern von vorn sah.
Sie atmete auf. Sie hatte gedacht, daß sie von einem Gefühl der Freiheit erfaßt worden wäre, doch das passierte nicht. Obwohl ihr jetzt niemand mehr etwas sagen konnte, sie unter keiner Kontrolle stand, wollte dieses Gefühl nicht aufkommen.
Woran lag das?
Sie überlegte und dachte daran, daß dieser Grund einfach die Fremde gewesen sein mußte, die das Kloster mitten in der Nacht verlassen hatte. Auch die Schreie gellten ihr noch in den Ohren. Das waren für sie keine normalen Schreie gewesen, eher besondere, aber sie konnte keine genauere Erklärung für sich finden.
Für sie war jedenfalls alles glattgegangen, und sie hoffte auch, daß sich die weiteren Dinge ebenfalls in diese gute Richtung entwickeln würden.
Wohin jetzt?
Das Mädchen wartete im Schatten der Mauer und überlegte. Sie hatte sich in den letzten Tagen und Nächten eigentlich einen guten Plan zurechtgelegt. Es war im Prinzip ganz einfach. Sie brauchte nur zur nahen Straße zu laufen und dort weitergehen. Irgendwann würde sie eine Ortschaft erreichen, ein kleines Dorf im Nordwesten von London. Dort konnte man weitersehen. Vielleicht gab es einen Bus, der in die Stadt fuhr, oder sogar einen U-Bahn-Anschluß.
Danach hätte sie sich erkundigen müssen. Zu spät.
Alles wäre gut gewesen, wenn nicht kurz zuvor die fremde Person das Kloster verlassen hätte. Marion überlegte, wie sie die Person einschätzen konnte, aber sie kam zu keiner Lösung. Etwas an ihr störte sie, obwohl sie die Frau nur aus einer bestimmten Entfernung gesehen hatte. Den Grund konnte sie nicht mal nennen, sie gestand sich ein, daß es möglicherweise an den Schreien gelegen hatte.
Ja, das war durchaus drin. Diese Schreie hatten sie sogar im Schlaf erschreckt, und später hatte sie die Rufe überdeutlich gehört.
Jetzt nicht mehr. Sie wurde von einer kalten Stille umgeben. Marion kam sich vor wie in einem riesigen Kühlschrank stehend. Sie wußte auch, daß sie nicht mehr lange auf der Stelle stehenbleiben konnte, es war einfach zu kalt, aber windstill, sonst wäre es erst recht nicht zum Aushalten gewesen.
Noch länger warten?
Nein, sie wollte verschwinden. Wenn die Schwestern ihr Verschwinden entdeckt hatten, wollte sie so weit wie möglich weg sein. Schon in London, wo John Sinclair lebte. Mit ihm konnte sie dann über alles reden, vor allen Dingen über die Schreie und diese seltsame Person, die aus der Kapelle gekommen war…
***
Marion war gegangen.
Einfach weg. Immer der Nase nach, wie man so schön sagte. Der Himmel war fast wolkenfrei, und sie sah hoch über sich das Heer der Sterne und einen Mond, der dabei war, sich zu verkleinern. Die Straße war kaum befahren, es war ja Nacht, und Marion war mutterseelenallein unterwegs, wobei sie als nächstes Ziel eine dunkle Masse anvisierte, in die die Straße zuerst hinein und dann hindurchführte.
Es war ein zusammenhängendes Waldstück. Danach senkte sich die Straße etwas, um durch ein breites Tal zu führen. Marion hätte den Wald umgehen können, aber das wäre ihr zu mühsam gewesen, denn sie wollte auf der Straße bleiben und somit den kürzesten Weg nehmen. Alles andere wäre außerdem eine Stolperei durch die Dunkelheit geworden.
Der Belag war trocken, aber Marion mußte sich vor Eisfallen in acht nehmen, die überall lauern konnten. Der Untergrund war an den Seiten und an schattigen Stellen oftmals glatt, und in der Dunkelheit waren diese Fallen oft spät oder gar nicht zu sehen.
Am und im Wals bewegte sich nichts. Er lag in einer tiefen Starre. Es gab keine einzige Stelle, durch die der Wind gefahren wäre und die erstarrten Zweige geschüttelt hätte. Ein lebloser Fleck, still, alle Geheimnisse für sich behaltend, irgendwie drohend.
Der Wald selbst war ihr nicht fremd, dennoch fürchtete sich Marion jetzt vor ihm. Er stand da, und von ihm strahlte nicht nur eine kalte Dunkelheit ab, sondern auch eine gewisse Drohung. Zumindest empfand Marion sie so. Der Wald selbst schien ihr zu raten, keinen einzigen Schritt näher an ihn heranzukommen.
Noch kältere Finger krochen ihren Rücken hinab. Sie spürte, wie sich in ihrem Körper etwas zusammenzog. Ihr tat niemand etwas, aber das Gefühl einer Gefahr verdichtete sich und ließ sie auch an die geheimnisvolle Frau denken.
Sie hatte das Kloster verlassen. Natürlich hätte sie auch in eine andere Richtung gehen können, doch daran wollte das Mädchen seltsamerweise nicht denken.
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