0953 - Der Fluch von Eden
Toten?
Nele fühlte sich genötigt, die Fahlen genauer in Augenschein zu nehmen. Bislang hatte sie den Blick auf sie soweit es ging gemieden. Jedenfalls hatte sie die Zerlumpten für Vertreter jener Gattung Mensch gehalten, die das Stadtbild ebenso prägten wie es die Zeugnisse des Wohlstands taten.
Es gab beide Seiten der Medaille - von Kind auf hatten Neles Eltern ihren Kindern dies beigebracht. Sie hatten schätzen lernen sollen, was das Schicksal ihnen in die Wiege gelegt hatte. Doch erst jetzt - heute -, nach all den Wendungen und bösen Überraschungen, wusste Nele wirklich, was sie einmal besessen - und wohl für immer verloren hatte. Hatte sie gestern hoch allein um ihren Vater getrauert, so musste sie heute den Verlust all ihrer Liebsten hinnehmen, angefangen bei ihrer Mutter, bis hin zu ihren beiden…
Ihr Blick huschte kurz zu den gebrochenen Gestalten im Käfig.
... Brüdern, die sie nicht einmal mehr zu erkennen schienen.
Oder sie nicht mehr erkennen wollten ?
Nele hielt auch das für möglich. Vielleicht fühlten sie sich von ihr im Stich gelassen.
Nicht ganz zu Unrecht, wie sie sich eingestehen musste.
Wäre ich nur bei ihnen geblieben.
Aber hätte sie irgendein Leid, das ihnen widerfahren war, verhindern können?
Nein.
Sie hoffte, dass sie sich nicht irrte. »War alles gelogen?«, fragte sie Wenzel. »Das mit Elsbetha…«
Wieder wischte jenes bitterböse Grinsen über das Gesicht des Mannes, dem sie gerade begonnen hatte zu vertrauen. Und der sie so schmählich hinters Licht geführt hatte.
»Das Kleid gehörte einer jungen Ketzerin, die die Folter nicht überlebte. Zum Glück zog man es ihr vorher aus.«
Nele versuchte, sich nicht vorzustellen, auf welche Art und Weise die Unbekannte, die ihre Figur gehabt hatte, ums Leben gekommen war. Was sie nach dieser Äußerung Wenzels aber sicher wusste, war, dass er der leibhaftige Teufel sein musste!
Wie hatte sie diesem Unheilbringer auch nur eine Minute auf den Leim gehen können?
»Was für ein Spiel treibt Ihr mit mir?« Bei dieser Frage wandte sie sich dem Vermummten zu. »Habt Ihr Angst, Euch mir zu zeigen? Seid Ihr so jämmerlich?«
Unerwartet ging der Mann in den Schatten auf ihre Provokation ein. Er trat vor. »Was sollte hierbei ein Spiel sein, dummes Ding?«, fuhr er sie an. »Wir sind hier unter deines Vaters Schöpfungen! Wie er sie schuf, wissen wir nicht. Aber wir werden es herausfinden - vielleicht mit deiner Hilfe. Ich kann nicht glauben, dass niemand in eurem Haus von Albrecht Großkreutz eingeweiht war. Ich kann und will es nicht glauben! Er hat ihnen irgendeinen Trank eingeflößt - sieh sie dir an. Sieh dir die Toten an, die nicht ein noch aus wissen. Sie irren durch ein Niemandsland. Ihre Leiber sind schon in Ansätzen verfallen und stinken, auch wenn dein Vater immer nur frische Leichen stahl.« Der Vermummte trat so nah an Nele heran, dass sie sich von den Blicken der Augen, die sie durch ein um den Kopf gewickeltes Tuch aus Seide anstarrten, durchbohrt und aufgespießt fühlte. »Sag mir, wie er es gemacht hat! Was hat er ihnen eingeflößt, das ihnen die Kraft verleiht, in diesem Haus herumzuirren, obwohl…« Er zögerte, fuhr dann aber fort. »… obwohl ihre Herzen nicht mehr schlagen und ihre Münder nicht mehr atmen. Sie bewegen sich, obwohl kein echtes Leben mehr in ihnen brennt. Es ist nur ein Abklatsch. Ein Werk des Satans! Hat dein Vater mit dem Teufel paktiert, Nele Großkreutz? Sag es mir! Und wage nicht, mich anzulügen!«
Sie versuchte, durch das Tuch hindurch auf sein Gesicht zu blicken.
Wer war dieser Mann? Am Ende gar…?
Nein, das kann nicht sein , dachte sie, während ihre Gedanken um einen Satz kreisten, den der Vermummte wie achtlos hingeworfen hatte - und der sie nicht mehr losließ. Weil er einen bösen Verdacht in ihr losgetreten hatte.
»Er hat ihnen irgendeinen Trank eingeflößt.«
Nele erinnerte sich an den Moment, als ihr Vater zum ersten Mal zu ihr gekommen war, um… um ihr etwas zu geben, das er »seine Medizin« genannt hatte. Sie erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen - nein, als fände es jetzt, in diesem Moment , statt.
Ihre reale Umgebung verschwamm. Sie war wieder sieben. Und ihr Vater trat an die Bettstatt, in der sie schlief, weckte sie ungestüm…
***
»Herr Vater!«
Er hatte ernst auf sie herabgeblickt. »Du bist ein gutes Mädchen. Deine Mutter hat dir einen Bruder geschenkt - dir und mir, das wollte ich dir sagen.«
»Habt Ihr mich deshalb geweckt, Herr
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