0953 - Der Fluch von Eden
irrlichterte der Gedanke nach Flucht durch ihren Geist. Aber sie war nicht imstande, dem schwachen Impuls eine Reaktion folgen zu lassen.
»Was redet ihr da für wirres Zeug?«, krächzte sie heiser. »Mein Vater soll das hier getan haben? Wie? «
Statt Wenzel antwortete eine Stimme aus den Schatten, in die das Tageslicht, das sich den Licht durch schmale Fensterleisten bahnte, nicht reichte.
»Genau das gilt es herauszufinden. Deshalb bist du da, mein Kind. Vertraue auf Gott den Allmächtigen. Seine Wege sind unergründlich. Dir kann vergeben werden. Du musst nur bereuen und mit uns zusammenarbeiten!«
Eine Gestalt bewegte sich links von Nele. Ein Mann. Er war vermummt. Aber die Art, wie er sprach, wie er jedes Wort seiner Rede gleichsam zelebrierte, ließ keinen Zweifel, dass er vornehmer Herkunft war - noch sehr viel vornehmer als Nele selbst.
»Wer ist das?«, wandte sie sich an Wenzel, der den Kopf respektvoll neigte.
»Besser, wenn du es nicht weißt«, raunte er ihr zu, ohne die Lippen zu bewegen und so leise, dass nur Nele nah genug stand, um ihn zu hören.
Warum? , wollte sie fragen. Warum soll das besser sein?
Aber sie unterdrückte ihre Neugier. Sie streckte den Arm aus und zeigte zu ihren Brüdern. »Lasst mich zu ihnen. Bitte. «
Wenzel zögerte. Die vermummte Gestalt in den Schatten machte eine Geste, woraufhin Wenzels Hände von Nele abließen und sie freigaben.
Nele stakste unsicher auf den Käfig zu. Die Gestalten, die unaufhörlich um ihn herum streunten, machten ihr Angst. Manche blieben stehen und streckten die Hände durch die Gitterstäbe, schafften es aber nicht, einen der Jungen zu erreichen.
Als die ersten Fahlen, die sich wie Schlafwandler bewegten, Nele zuwandten und ihre Arme nach ihr ausstreckten, lösten sich plötzlich weitere Gestalten, die das Mädchen vorher gar nicht wahrgenommen hatte, aus den Schatten. Sie waren in Leder gekleidet - selbst ihre Gesichter verschwanden hinter hauteng anliegenden Masken aus diesem Material - und drängten die Zerlumpten zurück. Auf der Brust der Maskierten prangte ein rot leuchtendes Kreuz, das vom Halsansatz bis zum Nabel reichte. Das Kreuz sah aus, als wäre es aus der Glut eines Feuers geformt. Das Rot wirkte fast flüssig .
Nele wurde kurz davon abgelenkt. Aber nachdem die Fahlen verscheucht waren, stand ihr der Weg zu Noah und Julius offen. Sie eilte zu ihnen und ging vor den Gitterstäben in die Hocke.
Ihre Brüder benahmen sich seltsam. Sie starrten sie an, zeigten aber keinerlei Anzeichen von Erkennen. Oder gar Wiedersehensfreude.
Nele lief es kalt den Rücken hinunter, als sie die Verletzung an den Händen ihrer Geschwister sah. Sie waren mit Brandblasen übersät, und mehrere Finger standen in Winkeln ab, wie es nicht normal sein konnte.
Nele drehte sich zu Wenzel um, der ein paar Schritte entfernt stand. »Was habt ihr ihnen angetan? Und warum? Wo ist Mutter? Ich will sofort…«
»Sie gaben sich störrisch«, sagte wieder jener Vermummte, der in den Schatten geblieben war, an Wenzels Stelle. »Sie hätten sich die Qualen der Folter ersparen können, indem sie gleich geredet hätten. Aber leider…«
Die Stimme verebbte.
»Was für Scheusale seid ihr?«, fauchte sie den Vermummten stellvertretend für jeden seiner Leute an. Dann richtete sie sich auf und ging zu Wenzel. »Ihr gehört zu diesem Pack, oder? Und Eure sogenannte Hilfsbereitschaft war nichts anderes als Heuchelei! Ihr habt mich von Anfang an belogen!«
Wenzel nickte ruhig. »Es war ein Versuch, dir ohne Folter etwas über deines Vaters Hexenwerk zu entlocken. Doch du beharrst darauf, nichts davon gewusst zu haben. Das kann wahr sein oder ein Versuch, mich - uns - zu täuschen. Das Risiko, dass du vielleicht doch mehr weißt, als du zugibst, können wir nicht eingehen. Bleibt also nur…«
»… die Folter«, vollendete Nele für ihn.
Er nickte.
Sie wunderte sich, wie kühl und unbeteiligt die Ankündigung sie ließ. »Was ist mit den Leuten?« Sie nickte zu den Abgedrängten, die insgesamt friedfertig wirkten, aber immer wieder versuchten, sich an den Maskierten vorbeizustehlen und zu Noah und Julius zu gelangen. »Was wollen sie von meinen Brüdern?«
»Hast du das immer noch nicht begriffen, mein Kind?«, fragte der Vermummte aus den Schatten. »Die beiden Knaben leuchten für diese Unglückseligen wie ein Feuer in der Nacht. Das Leben, die Jugend, die sie verkörpern, ist für die Toten so begehrlich wie für Motten das Licht…«
***
Die
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