0953 - Der Fluch von Eden
Frühe aufgetaucht waren, auch nicht den leisesten Zweifel daran entstehen lassen, dass ihr die Besucher so willkommen waren wie allerbeste Freunde.
Und jetzt sagte sie: »Obwohl ich sie mir immer wünschte. Eigene Kinder, meine ich. Du bist ein wundervolles Mädchen, Nele. Das Schicksal hat dich arg gebeutelt. Ich biete dir an, dich an Tochter statt und deine Brüder wie mein eigenes Fleisch und Blut bei mir aufzunehmen.« Sie seufzte. »Aber macht euch keine Illusionen: Ich bin arm wie eine Kirchenmaus. Das Leben, das ihr hattet, kann ich euch nicht einmal ansatzweise bieten. Ihr werdet bei mir nicht verhungern und ein Dach über dem Kopf haben. Aber selbst dafür werdet ihr euer Teil beisteuern müssen, mit ehrlicher Arbeit. Es gibt hier einen Mann, der sehr gescheit ist - er unterrichtet die anderen Dorfkinder in allem, was sie im späteren Leben hier brauchen. Es hat nichts mit dem zu tun, was wohlhabende Leute in einer Stadt wie Köln ihren Kindern an Ausbildung bieten können. Aber es ist besser als nichts, glaube ich. Und das Meiste lernt man ohnehin vom Leben selbst. Also, noch einmal: Ihr seid mir willkommen, ihr wäret für mich wie eigene Kinder - was Erziehung und Strafe ebenso einschließt wie Lob und Anerkennung, wenn es Grund dazu gibt.« Sie musterte Nele im flackernden Licht des Feuers. »Meinst du, dass ihr damit leben könntet - sodass ihr nicht immer nur an das Verlorene eurer Herkunft denken müsstet?«
Nele war überwältigt von dem Angebot einer Frau, die ihr tags zuvor noch völlig fremd gewesen war.
»Wir könnten es ja versuchen. Oder?«
***
Der Winter kam, frostige Monate mit viel Schnee. Aber die Dorfgemeinschaft, in die Frida die drei Kölner Kinder einführte, wärmte ihre Herzen auch dort, wo das Herdfeuer oft einen schier vergeblichen Kampf gegen die Kälte ausfocht.
Nele und Julius hatten sich erstaunlich schnell in dem kargen Leben hier zurechtgefunden. Nur Noah tat sich immer noch schwer, aber er war auch schon immer der Zarteste von ihnen gewesen. Jetzt, in den dunklen Tagen, da der Himmel meist bedeckt war und die Sonne selbst zur Mittagszeit selten durch das quecksilberfarbene Wolkengebräu brach, wirkte er noch blasser als sonst, seine Haut war fast durchscheinend, und die bläulichen Äderchen zeichneten sich darunter wie ein Kartenwerk ab.
Nele sorgte sich um ihn, weil er die Härte ihres neuen Lebens zwar klaglos ertrug, aber auch daran zu zerbrechen drohte.
Frida bemerkte es ebenfalls. Sie war großherzig genug, Noah beiseite zu nehmen und ihm klarzumachen, dass er nicht über seine Kräfte gehen durfte. Aber es war Noahs Seele, die angeknackst schien, und etwas in ihm trieb ihn geradezu, Raubbau mit seinem jungen Körper zu treiben - als wollte er der Welt, vor allem aber sich selbst, unbedingt beweisen, dass er ebenso zupacken konnte wie jeder andere.
»Der Junge tut sich keinen Gefallen«, sagte Frida eines Tages, um die Weihnachtszeit. »Sprich du mit ihm. Auf dich hört er eher. Er soll sich nicht zu Tode schuften. Wir kommen zurecht. Alles läuft prächtig, die Nachbarn helfen uns, wenn Not am Manne ist. Du weißt es.«
»Ich weiß es. Und ich habe auch schon mit ihm geredet. Mehr als einmal. Er tut es trotzdem. Jeden Abend liegt er erschöpft neben dem Herd, weil er Holz gesammelt oder jemandem aus dem Dorf geholfen hat, um dafür irgendeinen kleinen Lohn zu erhalten. Dinge, die wir gebrauchen können, wie er meint. Und oft stimmt es ja auch. Der Krug Milch dort - er hat ihn heute bekommen, weil er stundenlang Holz aufgeschichtet hat. Aber sie nur, wie er daliegt! Man könnte meinen, die Decke liege auf dem blanken Boden, nicht auf einem Jungen. Er wird immer magerer.«
Sie hörte auf zu reden. Es tat ihr im Herzen weh.
»Dann müssen wir ihn anbinden.«
Nele sah Frida konsterniert an - aber offenbar meinte die alte Frau es völlig ernst.
»Wir können ihn doch nicht…«
»Wir können. Er braucht Ruhe. Julius ist anders. Der schuftet, und man sieht es ihm kaum an. Aber Noah müsste erst mal aufgepäppelt werden. Die Milch soll er ruhig ganz allein trinken - und die nächsten Wochen nicht mehr das Haus verlassen. Meinst du, du kannst ihn dazu überreden?«
»Nein«, antwortete Nele überzeugt.
»Dann bleibt nur, ihn anzubinden.«
»Das würde er uns nie verzeihen.«
»Unsinn. Er wird merken, dass wir es nur gut mit ihm meinen. Vielleicht nicht am ersten Tag, aber irgendwann.«
Nele sagte es nicht - und später machte sie sich deswegen oft
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