0953 - Der Fluch von Eden
darauf fortgeschafft. In der Gemeinde herrschte darüber nicht einmal Verachtung; Nele kam es fast so vor, als begrüßten die Dörfler das, was passiert war. Niemand wollte sie mehr hier haben, spätestens nach dieser Schandtat war ihr das klar geworden.
Was sie bedauerte, war, Noah bei diesen Heiden, die sich Christen schimpften, zurückzulassen. Sie schwor sich, ihn nachzuholen, eines Tages, wenn sie es geschafft hatten, sich in Köln niederzulassen und mit ehrlicher Arbeit den Broterwerb zu sichern.
Natürlich ahnte sie, dass es schwer werden würde - aber den Gedanken ließ sie nicht so nah an sich heran, dass er sich als Hemmschuh erwiesen hätte.
Sie verließen Libur bei Nacht und Nebel und ohne von den Lebenden dort Abschied zu nehmen. Abschied nahmen sie nur von den Begrabenen, von Noah und Frida. Ihnen verrieten sie ihr Vorhaben, keinem sonst.
Und in einer lauen Frühlingsnacht brachen sie im März des Jahres 1212 nach Köln auf.
Ihr Versuch, in Libur sesshaft zu werden, musste als gescheitert betrachtet werden.
Aber Köln sollte sie ebenso wenig willkommen heißen…
***
Die wahre Not lernten beide erst nach ihrer Rückkehr in die Stadt ihrer Geburt kennen. Hatte Nele in den Monaten fern der alten Heimat die Verhältnisse dort in ihrer Erinnerung nach und nach verbrämt und durch den verklärten Blick einer Getriebenen gesehen, die sich nichts mehr ersehnte als die Rückkehr in eine intakte Familiengemeinschaft, so wurde sie nun mit der bitterharten Realität konfrontiert.
Niemand hatte hier auf sie gewartet, um ihnen den Start in einen Neuanfang zu erleichtern, ihnen unter die Arme zu greifen, sie in Lohn und Brot zu nehmen. Köln zeigte sich von seiner unbarmherzigsten Seite; nach einem Aus- und Unterkommen suchten sie vergebens. Von Anfang an lebten sie auf der Straße von der Hand in den Mund. Nele und Julius waren nur zwei Bettelkinder mehr, die darauf angewiesen waren, dass wohlhabende Leute ihnen hier und da einen Heller oder ein Stück Brot schenkten. So kamen sie die ersten Tage über die Runden, bis Nele sich entschied, ihre Gabe einzusetzen, um doch wieder zur Diebin zu werden - was sie sich zunächst streng verboten hatte. Doch als der Hunger immer größer wurde, konnte sie nicht mehr widerstehen.
Sie ließ Julius an einer Hausecke stehen und bläute ihm ein, sich nicht von der Stelle zu bewegen; sie würde bald zurück sein. Er versprach es. Die Bande zwischen ihnen waren noch enger geworden seit Noahs Tod und den Anfeindungen in Libur.
Nele konzentrierte sich und begab sich zu den Marktständen, die in Sichtweite des Fleckens aufgebaut waren, wo sie Julius zurückließ. Er sollte weiterbetteln, während sie… nun, während sie zu ihrem ersten Diebeszug seit Langem aufbrach. Sie hatte sich vorgenommen, sich auf das Allernotwendigste zu beschränken. Und das war ein Stück Fleisch oder geräucherter Fisch - Nahrung, aus denen die Körper Kraft und Ausdauer ziehen konnten, woran es ihr und Julius zunehmend mangelte. Sie hatte Angst, ernsthaft krank zu werden. Wenn sie starb, würde ihr Bruder auch nicht mehr fähig sein, sich in dieser mitleidlosen Welt zu behaupten. Und wenn er sie auch noch verließ, wollte sie nicht mehr leben. Dann hätte sie nicht gezögert, sich etwas anzutun, um ihm dorthin zu folgen, wohin schon Noah vorausgeeilt war. Ob sie ihre Brüder dort wiedertraf, war zweifelhaft - zumindest, wenn man dem glaubte, was die Pfaffen von den Kanzeln predigten. Ihr Vater der Ketzerei überführt, ihre Mutter eine Selbstmörderin. Auch sie wäre dann in der Hölle. Ihren Brüdern war hoffentlich ein besseres Schicksal beschieden.
Nele krümmte sich innerlich, während sie zwischen den Marktständen entlang eilte und testete, ob ihre Gabe überhaupt wirksam geworden war.
War sie die ganze Zeit noch Menschen ausgewichen, so suchte sie nun den Zusammenstoß.
Und tatsächlich: Es war, wie sie es erhofft hatte, sie war zum »Gespenst« geworden. Menschen gingen einfach durch sie hindurch. Und damit war auch klar, dass niemand sie zu sehen vermochte, sonst wäre eine Reaktion der Betreffenden gewiss nicht ausgeblieben.
Als sie wenig später mit einem Arm voll Lebensmitteln zu der Stelle zurückkehrte, wo Julius auf sie warten sollte, war ihr Bruder verschwunden.
Sofort biss Angst wie die spitzen Zähne einer Kreuzotter in Neles Herz.
Sie ließ die gestohlenen Dinge fallen. Bar ihrer Berührung fanden sie den Weg in die Sichtbarkeit zurück, fielen zu Boden, rollten davon
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