0953 - Der Fluch von Eden
und erregten die Aufmerksamkeit anderer Lumpenkinder oder Erwachsener in der Nähe, die sich verblüfft darauf stürzten. Indes hatte Nele nur noch Gedanken für Julius. Sie drehte sich um ihre eigene Achse und ließ den Blick suchend in alle Richtungen gehen.
Was war passiert? Was hatte ihren Bruder dazu bewogen -
Da kam er angetrottet. Schuldbewusst hingen seine Schultern nach unten, die Augen waren gesenkt.
»Jul!« Nele lief ihm entgegen. Die Erleichterung überwog in diesem Moment jeden Ärger. Sie umarmte ihn und küsste sein Haar.
Julius befreite sich keuchend. »Ich ersticke!«
»Geschähe dir recht!« Jetzt war der Ärger da und suchte ein Ventil. »Wie konntest du mir einen solchen schreck einjagen?«
Er presste die Lippen zusammen.
»Wo warst du? Sag schon!«
»Nicht weit. Da war ein Junge. Er sagte, ich solle mitkommen. Er meinte offenbar, ich sei allein. Er sagte, es gäbe noch mehr wie mich - und ihn, und sie würden gegenseitig aufeinander aufpassen.«
»Das hast du geglaubt?«
Julius nickte störrisch.
»Wie sah er aus?«
»Weiß nicht. Wie ein Junge halt. Wie ich.«
Nele schüttelte den Kopf. »Kann man dich keine Minute allein lassen? Wegen dir ist das gute Essen verloren gegangen. Ich muss noch einmal los, wenn wir satt werden wollen.«
»Nein.« Julius fasste sie flehend am Arm. »Nicht. Lass uns lieber…«
»Was?«
»… nachsehen.«
»Nachsehen?«
»Ob - ob wir ihn finden. Ich bekam ein schlechtes Gewissen, als wir eine Straße weiter waren. Er nickte, als ich ihm erklärte, dass ich zurückmüsse, weil… weil da jemand auf mich warte. ›Viel Glück!‹ wünschte er mir zum Abschied. Dann verschwand er die Straße hinunter, während ich hierher zurückrannte.«
»Ich bin froh, dass du dich an mich erinnert hast«, sagte Nele, schon spürbar milder gestimmt. »Hat dieser andere Junge auch einen Namen?«
Julius nickte. »Nikolaus.«
»In Ordnung«, sagte sie. »Dann lass uns hinter ihm hergehen. Die Stadt ist groß, wir werden ihn kaum wiedersehen - aber wer weiß. Ich verstehe immer noch nicht, dass du ihm überhaupt gefolgt bist. Ohne mich.«
»Er war so faszinierend.«
Nele erkannte ihren Bruder kaum wieder. So hatte Julius noch von keinem Menschen gesprochen. Sie merkte, wie sie neugierig wurde.
Hand in Hand gingen sie die Straße hinunter, von der Julius gesprochen hatte.
Und womit Nele nicht ernsthaft gerechnet hatte, geschah. Nach etwa einer halben Stunde erreichten sie einen Platz mit einem gemauerten Brunnen, auf dessen Stufen eine Gruppe von Halbwüchsigen herumlungerte, und Julius rief: »Da ist er! Ganz links - das ist Nikolaus!«
Neles Blick folgte dem ausgestreckten Arm ihres Bruders und war völlig perplex - weil ihr klar wurde, dass sie Nikolaus nicht zum ersten Mal sah.
***
Kein Zweifel, das war der Halbwüchsige aus der Schenke, in der Nele vor ihrer Flucht aus Köln erstmals ihre Gabe erprobt hatte.
Und der sie als einziger Gast im Wirtshaus zu sehen schien - obwohl sie sich im Schutz ihrer seltsamen Kräfte bewegt hatte.
»Was ist?« Julius bemerkte, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte.
Nele überlegte, ob sie ihrem Bruder erklären sollte, was sie zögern ließ. Dann überwand sie sich. »Nichts. Lass uns zu ihm gehen. Er sieht freundlich aus.«
»Hab ich doch gesagt!«
Es stimmte: Jener Nikolaus dort, der etwa ein Dutzend Kinder unterschiedlichen Alters um sich geschart hatte, wurde unablässig von irgendjemandem mit Beschlag belegt, und trotzdem blieb er immerfort freundlich, hörte zu, sagte etwas, lächelte.
Er wirkte wie ein großer Bruder für jedermann. Einer, den auch Nele sich im selben Moment wünschte, da sie ihn so vor sich sah. Mitten in der hektischen Stadt bildete der Brunnen, wo Nikolaus »hofierte«, eine Oase der Ruhe.
Im Näherkommen fiel Nele auf, dass nur Kinder in Lumpen zu seiner Anhängerschaft zählten; offenbar waren sie allesamt obdachlos.
Und er? Er trug Kleidung, die eine Spur ordentlicher und gepflegter wirkte. Aber ob das bedeutete, dass er aus leidlich geordneten Verhältnissen kam, wagte Nele zu bezweifeln. Irgendetwas war an dem Jungen, der etwa so alt wie sie selbst sein mochte, das ihn besonders machte und aus der Masse hervorhob.
War er ihr in der Schenke größtenteils durch sein »Starren« aufgefallen, so spürte sie jetzt schon aus der Entfernung seine starke charismatische Ausstrahlung.
Er war jetzt schon groß wie ein erwachsener Mann. Sein Gesicht war von weizenblondem lockigem,
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