0953 - Der Vampirwolf
den kleinen Platz vor der Kirche. Sie lauschte ihren eigenen Schritten, und sie wußte plötzlich, daß sie etwas Schreckliches entdecken würde.
Schlagartig war ihr klargeworden, daß der Pope nicht mehr lebte. Dafür brauchte sie keinen Beweis, das steckte einfach in ihr, als hätte sie es mit einem dritten Auge gesehen.
Die Tür der kleinen Kirche paßte haargenau. Auch sie war nicht sehr breit oder hoch. Größere Menschen mußten sich schon ducken, wenn sie das Gotteshaus betreten wollten.
Die Tür lag frei. Um sie jedoch zu erreichen, mußte Jovanka über ein dunkles Hindernis steigen, das vor der Kirche auf dem Boden lag und sich nicht bewegte.
Es war kein Tier. Dazu war es auch zu groß. Sie wußte sofort, wer da lag, aber sie ging trotzdem näher.
Ihre Finger spielten jetzt noch heftiger mit den Perlen des Rosenkranzes. Sie lauschte dem leisen Klacken, wenn die Kugel zusammenstießen. Das Kreuz, an dem sich die Perlen befanden, war durch ihren eigenen Schweiß glitschig geworden.
Der Turm kam ihr düster vor. Das Mauerwerk abweisend. Die Kirche hatte dem Popen vor dem Bösen keinen Schutz geboten. Daran mußte die Frau denken.
Warum nicht? Was war stärker als die Kirche, als die Kraft des Allmächtigen?
Vor der Gestalt blieb sie stehen.
Sie schaute nach unten.
Nicht nur der Mund zuckte, auch ihr Gesicht, und sie schloß für einen Moment die Augen. Viel hatte die Frau in ihrem Leben gesehen, aber dieser Anblick gehörte zu dem Schlimmsten, denn oberhalb der Schultern schwamm alles in einer dunklen Lache, über die dicke Fliegen bereits ihre Kreise zogen.
Jovanka wandte sich ab. Wie erwähnt, sie wußte Bescheid, was in der letzten Nacht hatte passieren sollen, und sie dachte plötzlich an die vier Helfer des Popen. Obwohl sie keinen von ihnen gesehen hatte, glaubte sie nicht mehr daran, daß sie noch lebten.
Das Böse war grausam - und zu stark!
***
Am Abend des Tages!
Die Sonne war noch nicht untergegangen. Aber sie hatte sich bereits eingefärbt und stand als rötlicher Ball am Himmel, der wie ein Glutauge alles beobachtete, besonders diesen kleinen Ort in den Karpaten, der von der übrigen Welt nicht wahrgenommen wurde.
Man hatte die Leichen der vier Helfer gefunden. Bei den Müttern und Vätern der jungen Männer war das große Wehklagen ausgebrochen. Jeder hatte auch gesehen - Jovanka eingeschlossen -, wie die Menschen gestorben wären.
Nicht durch Bisse, nicht durch Zähne, man hatte sie durch Schwert- oder Lanzenhiebe getötet, aber auch durch Pfeile, die in zwei Körpern gesteckt hatten.
Wegen des warmen Wetters wollte man die Toten schon am folgenden Tag begraben. Noch aber standen sie in einem Stall, wo die Leichen immer aufbewahrt wurden, und die Mitglieder der Familien wechselten sich mit der Trauerwache ab.
Damit hatte die alte Jovanka nichts zu tun. Sie hatte ihr Beileid bekundet und auch von dem Popen Abschied genommen. Sie hatte erfahren, daß der Ort nun ohne Schutz war, doch das hatte sie nicht mehr interessiert, obwohl sie gläubig war.
Sie hatte sich in ihre Hütte zurückgezogen und beschäftigte sich mit etwas, von dem nun, wo der Pope nicht mehr lebte, keiner etwas wußte. Sie fing damit an, ihre Erlebnisse aufzuschreiben. Sie und Dragan Samescu waren die einzigen im Ort gewesen, die lesen und schreiben konnten. Jovanka hatte es als junges Mädchen gelernt. Nach dem Tod ihrer Eltern war sie umhergeirrt und hatte für zwei, drei Jahre in einem Kloster eine Stelle als Magd bekommen. Dabei hatte sie sich mit einer alten Nonne angefreundet, und die hatte sie das Lesen und Schreiben gelernt. Jovanka hatte die Kunst nicht oft eingesetzt, war aber immer in der Übung geblieben und konnte nun das, was sie erlebt hatte, aufschreiben, um es der Nachwelt zu überlassen.
Sie schrieb nicht fehlerfrei, aber es war zu lesen und sie malte die Worte auf eine Rolle Pergament.
Sie fing mit der Angst der Menschen vor dem besonderen Monster, dem Vampirwolf an, und sie beschrieb ihn dann so, wie sie ihn sich vorstellte und auch sein Aussehen vom Popen erfahren hatte.
Es tat der alten Frau gut, die Worte niederschreiben zu können. In der modernen Zeit hätte man von einer Aufarbeitung der Probleme gesprochen, aber für Jovanka war es einfach das Bedürfnis, die Nachwelt zu warnen.
Sie schrieb Stunden. Die Sonne war längst untergegangen. Wieder hielt die Nacht den Ort umklammert, und durch die Dunkelheit schallten schaurig die Klagelieder der Trauernden.
Davon ließ sich Jovanka
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