0956 - Die Schlangenfrau
das Gefühl, ein nicht menschliches Wesen zu sehen, obwohl sie ja menschlich aussah.«
»Soll ich dir die Wahrheit sagen?«
»Ich bitte darum.«
»Sie kam mir vor«, murmelte Johnny und senkte den Kopf, »wie jemand aus dem Weltraum. Von einem anderen Stern. Da kannst du lachen, aber ich habe das wirklich gedacht. Sie sah so glatt aus, so künstlich, als hätte man sie geschaffen oder konstruiert.«
Sheila holte tief Luft. Sie verkniff sich eine Bemerkung. Sie lächelte nicht einmal, sondern räusperte sich. Ob sie ihrem Sohn glaubte oder nicht, das war ihr nicht anzumerken aber sie gab die Antwort auf ihre Art und hob nur die Schultern.
»Ist ja auch verrückt, Mum.«
»Das weiß ich nicht. In dieser Welt ist manchmal alles verrückt. Und ich habe den Eindruck, mitten im Zentrum zu stehen.« Sie fuhr mit den Fingern durch die Haare und ging zum offenen Barschrank. »Jetzt brauche ich erst mal einen Drink.«
Es war ein Cognac, den Sheila in ihr Glas gluckern ließ. Es war ein guter Stoff; sie konnte nicht »lügen«.
Platz wollte sie nicht nehmen. Auch jetzt wanderte sie mit dem Glas in der Hand durch das Zimmer, schaute zur Decke und auch des öfteren auf ihre Uhr.
Sie trank einige Schlucke, aber besser wurde es nicht. Der Garten, in den sie schaute, lag wie ein totes Gelände vor ihr. In ihm bewegte sich nichts. Die Kälte hatte ihn erstarren lassen. Noch lag Schnee auf dem Boden, doch der Wetterumschwung bedeutete das Ende für die weiße Pracht.
Keine Fremde. Keine Schlange. Aber Johnny hatte sich bestimmt nicht geirrt. Sie war da. Sie hielt sicherlich das Haus unter Kontrolle, und sie würde sich auch zeigen, wenn es soweit war oder sie es für richtig hielt.
Warten…
Aber auf was?
Sheila schaute ihren Sohn an, der ins Leere blickte und sein Glas vergessen hatte. Jedenfalls trank er nicht mehr davon. Er hing seinen Gedanken nach, die sich bestimmt um seinen toten Schulfreund Eric drehten.
Als Mutter konnte Sheila die Trauer des Jungen nur schlecht ertragen.
Deshalb mußte sie einfach zu ihm gehen und mit der Hand über sein Haar streichen.
Johnny hob den Kopf. Er lächelte krampfhaft und schluckte dabei. Sheila sah es an seinen Augen, daß er geweint hatte. Es war eine völlig natürliche Reaktion gewesen, und sie sagte mit leiser Stimme: »Auch mir tut es um Eric wahnsinnig leid. Ich habe ihn zwar nicht gut gekannt, aber schlimm ist so etwas schon.«
»Er wollte noch soviel tun.«
»Was denn?«
»Die Tierfänger, Mum. Er wollte sie stellen. Er wollte auch die Tiere befreien, die gefangen wurden.« Johnny schüttelte sich. Seine Stimme drohte überzukippen, als er hervorpreßte: »Und jetzt ist alles aus.«
»Ja, ich weiß, Junge. Es ist vorbei.« Sie räusperte sich. »Aber nicht für uns.«
»Meinst du?«
Sheila schaute in das skeptische Gesicht ihres Sohnes. »Ja, das meine ich.«
»Ich auch.«
Sheila trank noch einen Schluck, sie drehte sich zum Fenster hin um und sagte: »Fenster und Türen sind verschlossen, Johnny. Sie wird es nicht schaffen, ungesehen in das Haus einzudringen.«
»Und wenn sie schon drin ist?«
Diese Frage versetzte Sheila zwar keinen Schock, sie zuckte trotzdem zusammen, denn sie mußte sich eingestehen, daß sie daran ebenfalls schon gedacht hatte. Gegen ihre Überzeugung gab sie die Antwort.
»Nein, das glaube ich nicht, Johnny. Das, das ist nicht wahr. Ich denke nicht, daß sie es geschafft hat. Wie denn?«
»So einer kann man alles zutrauen.«
»Bestimmt nicht.« Sie wollte lächeln aber schon im Ansatz erstarrte es, denn Sheila hatte - nicht einmal bewußt - einen Blick auf die offenstehende Tür im Flur geworfen, und dort sah sie, nicht weit von der Schwelle entfernt, die Bewegung. Da war etwas auf dem Boden, sehr flach und sehr…
Ihre Gedanken brachen ab, weil Johnny seine Mutter ansprach. »He, du schaust so komisch, Mum. Was ist denn passiert? Ist da jemand an der Tür?«
Sheila schwieg und schüttelte den Kopf.
Johnny trank hastig das Glas leer, dann stand er auf und drehte sich der Tür zu.
Beide sahen es zugleich!
Über die Schwelle glitt lautlos eine giftgrüne Schlange in den Wohnraum…
***
War sie da? War sie nicht da? Hatte sie statt dessen ihren Boten, die Schlange, geschickt?
Was ihr an Fragen durch den Kopf schoß, konnte sie nicht beantworten.
Alles drehte sich. Sie selbst fühlte sich als Mittelpunkt des Kreisels, der sich immer schneller bewegte und einfach nicht aufhören wollte. Nur mühsam unterdrückte sie den Schwindel,
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