0957 - Der schwarze See
Geisel. Und mit der« - er deutete auf Ivonne Lafitte - »fangen wir an.«
Mit übertriebener Geste schob der Shi-Rin den linker Ärmel seines Fracks hoch und schaute auf die Armbanduhr. »Du hast eine Stunde, Druide. Was danach passiert, liegt nicht mehr in unserer Verantwortung.«
***
Den Rest der Nacht verbrachte Nicole in einem fensterlosen kleinen Raum in einem baufälligen Nebengebäude. Man hatte sie von Paula getrennt. Vermutlich um jeden Fluchtversuch von vornherein zu vereiteln. Irgendwann fiel sie in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie unsanft wieder geweckt wurde, als zwei von Álvarez' Männern sie ruppig auf die Füße zogen. Ein dritter Mann mit einem riesigen Schnurrbart presste sein Gesicht so dicht an ihres, dass sie seinen schlechten, nach Knoblauch und fauligen Eiern stinkenden Atem riechen konnte.
»Gut geschlafen, mein Täubchen?«
»Wie in einem Fünf-Sterne-Hotel«, zischte sie.
»Sie hat von dir geträumt, Domingo«, höhnte einer der anderen Männer.
»Na, dann wollen wir mal sehen, ob wir deinen Traum nicht nachher wahr machen können, Süße.« Domingo schob sich noch näher an sie heran. Nicole atmete so flach wie möglich, um sich nicht übergeben zu müssen. »Das heißt, wenn du den Spaß hier überlebst. Und ganz ehrlich, da sind die Chancen nicht die besten.«
Die Männer stießen Nicole ins Freie und trieben sie zu einem Pick-up-Truck, auf dessen Ladefläche schon Paula saß. Ihre Augen waren verquollen, doch sie lächelte die Französin tapfer an.
»Nicole, Gott sei Dank, dir geht es gut.«
»Schnauze!«, bellte eine der Wachen. »Sonst halten wir irgendwo und vergnügen uns noch ein bisschen mit euch, bevor wir euch zur Arena bringen.«
Der Schnauz mit dem schlechten Atem nahm am Steuer Platz. Die anderen beiden Schläger bugsierten Nicole zu Paula auf die Ladefläche und nahmen dann selbst darauf Platz. Während der Fahrt ließen die Männer ihre Gefangenen keine Sekunde aus den Augen, und doch konnten sie nicht ahnen, was direkt vor ihrer Nase geschah. Nicole saß Paula direkt gegenüber. Sie sah die junge Reporterin fest an, konzentrierte sich - und streckte ihre telepathischen Fühler aus.
- Paula?
Die Journalistin keuchte auf, als sie Nicoles Stimme direkt in ihrem Kopf hörte. Irritiert sah einer der Männer sie an, doch er konnte nichts Verdächtiges feststellen.
- Psst. Nicht sprechen. Du musst die Antworten denken.
- Was ist das? Kannst du Gedanken lesen?
- Ich bin eine schwache Telepathin. Ich kann Gedanken lesen, wenn mein Gegenüber in Sichtweite ist. Haben sie dich gut behandelt?
- Sie haben mich nicht angerührt, wenn du das meinst. Sie haben mir sogar etwas zu essen gegeben. Eine ekelhafte Pampe, aber immerhin breche ich nicht vor Hunger zusammen, bevor mich diese Bestie in Stücke reißt.
- Keine Sorge, soweit wird es nicht kommen.
- Hast du einen Plan? Es klang hoffnungsvoll.
- Ehrlich gesagt nicht , räumte Nicole ein. Aber ich bin ganz gut im Improvisieren. Und ich verspreche dir, ich lasse nicht zu, dass dir etwas passiert. Wir kommen hier lebend raus.
Nicoles Worte schienen Paula etwas zu beruhigen.
Jetzt musste sie nur noch selbst daran glauben.
***
»Sie dürfen nicht darauf eingehen, Sir. Das ist eine Falle. Sie werden die Geiseln niemals gehen lassen.«
William sprach im Flüsterton, damit die Umstehenden ihn nicht hören konnten. Gryf erwiderte nichts. Er versank nur noch tiefer in seinem Sessel und sog stumm an seiner Pfeife. Er rauchte nur noch selten, doch jetzt brauchte er dringend etwas, das ihm half, sich zu konzentrieren. Der Silbermond-Druide konnte den betroffenen Vätern und Müttern kaum ins Gesicht sehen. Das stumme Flehen in ihren Blicken versetzte ihm einen tiefen Stich.
Rette unsere Kinder!
Auch sie wussten natürlich, dass die Shi-Rin kaum vorhatten, die Dorfbewohner und ihre Kinder in Frieden zu lassen, wenn sich Gryf auslieferte. Sobald der Silbermond-Druide aus dem Weg war, würden sie keinen Moment zögern, um ihrer Rache freien Lauf zu lassen. Die Dorfbewohner wussten das. Doch in ihrer Verzweiflung klammerten sie sich an die kleinste Hoffnung, so irrational sie auch war.
Gryf hätte ohne zu zögern sein Leben gegeben, um die Teenager zu retten. Doch wenn er sich sinnlos opferte, gab es niemanden mehr, der die Belagerten vor den höllischen Attentäter schützen konnte. Das einzige, was sie davon abhielt, die wehrlosen Männer und Frauen niederzumetzeln, waren er und…
»William!«, abrupt setzte sich
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