0959 - Der Fallbeil-Mann
bartlos.
Zwischen uns stand ein kleiner Tisch. Aber nicht von ungefähr, denn dort hatte der Lord sein Lieblingsgetränk aufgebaut. In einer Kristallkaraffe schimmerte goldbrauner Whisky, den, das hatte er mir gesagt, man nirgendwo kaufen konnte. Er wurde extra für ihn gebraut, und den Namen der kleinen Privatbrauerei hütete er wie ein Geheimnis. Deshalb nannte er sein Getränk auch »Secret Malt«.
Mir hatte er auch ein Glas eingeschenkt. »Bitte, Mr. Sinclair, nehmen Sie einen kräftigen Schluck. Sie werden es nicht bereuen. - Ich finde, daß wir uns die Nacht verkürzen sollten.«
Er selbst hatte sichsschon einen Dreifachen eingeschenkt, und ich wollte ihn nicht enttäuschen. Ich zog den Stöpsel aus der Karaffe, und schon stieg mir der Duft entgegen, der einfach wunderbar war. Daß ich ihn aufnahm und dabei nickte, erfreute den Lord. Während ich einschenkte, lobte er sein Getränk als das beste der Welt. »So etwas werden Sie suchen müssen, Mr. Sinclair, und Sie werden solch ein edles Getränk nie finden.« Er hob sein Glas an, schaute hinein und sagte dann: »Trinken wir am besten auf ihn.«
Ich runzelte die Stirn. »Auf ihn, sagten Sie?«
»Ja«, schnappte er, »auf ihn. Auf unseren Gast, der sicherlich erscheinen wird.«
Ich hatte zwar eine bestimmte Ahnung, fragte aber trotzdem nach. »Und wer soll dieser Gast sein, Sir Vincent?«
»Es gibt nur einen, der hier nächstens erscheinen wird. Der Fallbeil-Mann…«
***
Der Lord hatte den letzten Satz gesagt, als ich den herrlichen Whisky noch auf der Zunge schmeckte, und ich hatte Mühe, ihn normal zu trinken und mich nicht zu verschlucken. Das Glas leerte ich zur Hälfte, sah, das mich der gute Sir Vincent von der Seite her beobachtete, dann beugte ich mich vor und stellte das Glas wieder ab. »Sehr gut!« lobte ich seinen Privattrank. »Wirklich ausgezeichnet.«
»Ja, das stimmt. Er paßt in diese Zeit.«
»Sie meinen das speziell, nicht allgemein?«
»So ist es.«
»Und Sie denken dabei an den Fallbeil-Mann!«
»Ausgezeichnet, Mr. Sinclair. Wollen wir hoffen, daß er kommt. Sie sollen ja nicht grundlos hier leben.« Er hob wieder sein Glas an, lächelte etwas säuerlich, bevor er sein »Cheers« sagte, um das kleine Kristallgefäß zu leeren.
Ich trank nicht und wartete auch mit einer Bemerkung. Dann kam ich doch indirekt auf den Fallbeil-Mann zu sprechen. »Hören Sie, Sir Vincent, diese Person…«
»Ja bitte?« Er unterbrach mich und schenkte sich nach. Der Knabe konnte einiges vertragen.
»Kann es sein, daß sie uns geweckt hat?«
Der Lord dachte nach. Er starrte dabei in sein Glas, bewegte die Lippen und machte »Hohlwangen!«
»Ja, das ist durchaus möglich«, gab er schließlich zu.
»Aber Sie haben ihn nicht gesehen?«
Sir Vincent starrte auf den Kamin. »Nein, natürlich nicht. Dann hätten Sie auch Bescheid gewußt.«
»Und wodurch sind Sie wach geworden?«
Er brauchte mal wieder einen Schluck und trank den Whisky schmatzend und genießerisch. Danach deutete er gegen seine Brust. »Ich habe etwas wie eine innere Uhr. Auf sie kann ich mich verlassen, und ich sage Ihnen, daß ich oft hier sitze. Mal schaue ich ins Feuer, mal nicht. Aber das hier ist mein Platz.«
»Warten Sie dann auf ihn?« Ich wollte heute alles sehr genau wissen.
Der Lord kicherte wie ein kleiner Junge. »Auf ihn warten? Darauf, daß er hier erscheint, mir einen guten Tag wünscht und mir dann den Kopf abschlägt?«
»Das nicht gerade. Sie werden an Ihrem Kopf hängen.«
»Stimmt.«
»Aber was treibt Sie aus dem Bett?«
»Ich bin nicht mehr der Jüngste, Mr. Sinclair. Oft kann ich in der Nacht nicht schlafen. Dann wandere ich durch mein Schloß und bleibe schließlich hier hängen.«
»Schön.«
»Ich weiß nicht, ob es schön ist, Mr. Sinclair, aber ich kann Ihnen sagen, daß in dieser Nacht sicherlich noch etwas passieren wird. Davon bin ich überzeugt,«
»Warum?«
»Ahhh, Gefühl.«
»Gut, das hatte ich auch. Wir werden also warten müssen, ob noch etwas passiert?«
»So ist es, Mr. Sinclair. Und der gute Whisky wird uns dabei helfen, die Zeit zu vertreiben.« Er lächelte. »Sie sind doch gekommen, um ihn zu stellen. Deshalb müssen Sie sich in Geduld üben. Er kommt nicht auf Abruf.«
Ich lächelte den Lord an, der das Lächeln erwiderte. »Haben Sie eigentlich nie Angst davor gehabt, geköpft zu werden, Sir Vincent?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Sagen wir, es ist das Gefühl gewesen. Ich lebe noch, und ich weiß, daß jedes Schloß
Weitere Kostenlose Bücher