096 - In Soho regiert der Tod
würde er sie sich holen - einen nach dem andern, nicht beide gleichzeitig, denn zu zweit waren sie stark.
Jetzt war erst mal Julie Hudson dran.
Er haßte es, etwas begonnen, aber nicht zu Ende geführt zu haben.
Das mußte er ändern.
***
Julie Hudson stand in ihrem Penthouse vor dem Spiegel und frisierte ihre tizianrote Perücke. Sie trug ein sehr elegantes, sehr frauliches Kleid, das trotz seiner Raffinesse einfach war.
Draußen blitzte und krachte es, als ob die Welt einstürzen wollte. Julie hatte keine Angst vor Gewittern. Sie war kein ängstliches Mädchen. Was sie jedoch in jener Nacht in Soho erlebt hatte, hatte sie lange als Alptraum verfolgt.
Heute war sie glücklicherweise darüber hinweg.
Wieder donnerte es. Das ganze Haus bebte. Hier oben, im 14. Stock, schien man ein Gewitter besonders laut mitzubekommen. Vielleicht deshalb, weil man den Wolken näher war.
Julie beugte sich vor und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Sie war mit ihrem Aussehen nicht zufrieden. Sie hatte zwar hübsche Augen, eine wohlgeformte Nase, sinnliche Lippen und ein hübsches Kinn, aber das zusammen ergab keine Harmonie.
Sie pinselte noch ein bißchen Rouge auf ihre Wangen, dann sagte sie zu sich: »Das reicht. Mehr kann ich nicht tun. Ich bin schließlich keine Maskenbildnerin.«
Sie schlenderte von der Diele ins Wohnzimmer. Große Regentropfen prasselten gegen das Glas der großen Panoramatür, die auf die Terrasse führte. Im Sommer war es dort draußen herrlich.
Julie lag oft stundenlang in der Sonne. Sie liebte es, nahtlos braun zu sein, und ihre Kunden schätzten es.
Sie blickte sich im großen Livingroom um. Peinliche Sauberkeit herrschte. Die Zugehfrau hatte sich diesmal besondere Mühe gegeben. Schließlich würde ein Reporter von ›High Life‹, einer großen Illustrierten, kommen und hier Fotos machen.
Julie hatte sich die Sache gut überlegt. Als Moses Langdon, der Reporter, sie angerufen und ihr seinen Vorschlag unterbreitet hatte, hatte sie zunächst sofort abgelehnt, aber so leicht hatte sich der Mann nicht abwimmeln lassen.
Er hatte wieder angerufen. Er hatte neue Argumente vorgebracht, und diesmal hatte Julie nicht sofort nein gesagt, sondern um Bedenkzeit gebeten.
Als Langdon sich zum drittenmal meldete, hatte sie zugesagt und mit ihm einen Termin vereinbart.
Er wollte ihre Story bringen, die Geschichte eines Opfers des Stechers von Soho. Des einzigen Opfers, das diese schreckliche Begegnung überlebt hatte.
Er hatte ihr Geld geboten. Zuerst siebentausend Pfund, dann zehntausend, und dieses großzügige Angebot hatte es ihr leichter gemacht, sich zu entscheiden.
Um zehntausend Pfund zu verdienen, mußte so manch einer hart arbeiten, und Julie brauchte nichts weiter dafür zu tun, als ihre Geschichte zu erzählen und ein bißchen vor der Kamera des Reporters in ihrem schicken Penthouse zu posieren.
Leicht verdientes Geld. Sie wäre dumm gewesen, wenn sie das Angebot ausgeschlagen hätte, zu diesem Standpunkt hatte sie sich inzwischen durchgerungen.
Natürlich würde sie Langdon nichts von ihrem Job erzählen. Es mußte schließlich nicht alle Welt wissen, daß sie ein leichtes Mädchen war, das sich an wohlhabende Herren verkaufte.
Sie hatte sich eine halbwahre Geschichte zurechtgelegt, die bei den Lesern von ›High Life‹ bestimmt sehr gut ankommen würde. Es war eine Geschichte, wie sie Julie selbst gern in Illustrierten las.
Moses Langdon würde damit zufrieden sein. Er mußte damit zufrieden sein, denn eine andere Geschichte würde er nicht zu hören bekommen.
Sie blickte auf ihre Uhr. Wenn Langdon pünktlich war, würde er in fünf Minuten läuten.
Er war überpünktlich und läutete jetzt schon!
Julie erschrak. Sie zuckte zusammen. Eben hatte sie überlegt, ob sie einen Drink nehmen sollte, um ruhiger und gelassener zu sein, wenn der Reporter kam.
Nun war er da, und der Drink fiel vorläufig ins Wasser, aber aufgeschoben war nicht aufgehoben.
Julie hatte Langdon noch nie gesehen. Sie war neugierig, wie er aussah, und sie hoffte, einen guten Eindruck auf ihn zu machen, damit er gut über sie schrieb.
In der Diele wandte sie sich noch einmal kurz dem Spiegel zu. Hoffentlich mag er tizianrotes Haar, dachte sie und eilte zur Tür, um sie zu öffnen.
Sie konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen, als sie den Reporter sah. Seine Stimme hatte so angenehm, so warm, so voll geklungen. Julie fragte sich unwillkürlich: Was hast du erwartet? Einen Filmstar? Er sieht aus wie jedermanns
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