096 - In Soho regiert der Tod
Schwager, klein, unscheinbar, mit Brille, schütterem Haar und Schnauzbart.
»Hallo, da bin ich«, sagte er mit seiner großartigen Stimme. Sie hätte zu einem Traummann gepaßt, der mindestens einsachtzig groß war.
Julie war verwirrt, aber nicht mehr nervös. Sie fühlte sich diesem Mann überlegen. Wer so aussah, durfte nicht wählerisch sein; dem mußte auch ihre tizianrote Perücke gefallen.
Er trug eine Fototasche und einen Schirm.
»Mistwetter«, sagte er. »Ausgerechnet heute muß es regnen. Und dann gleich so, daß sogar 'ne Ente ertrinkt.«
»Kommen Sie herein«, sagte Julie und nahm ihm den Schirm ab. »Wenn Sie möchten, braue ich für Sie einen schönen, starken Grog.«
»Das ist nicht nötig«, sagte Langdon. »Ein guter Whisky tut es auch.«
»Können Sie haben«, sagte Julie und trug den Schirm ins Bad.
Als sie den Reporter ins Wohnzimmer führte, nickte er anerkennend. »Sie wohnen sehr schön.«
»Schade, daß die Sonne nicht scheint«, sagte das Mädchen. »Von der Terrasse hat man einen wunderbaren Blick über die Stadt. Setzen Sie sich doch, Mr. Langdon. Whisky, sagten Sie? Kommt sofort.«
Sie füllte zwei Gläser.
Und unten betrat Keenan Aprea das Haus.
***
Der Stecher schüttelte das Wasser ab, während er auf den Lift wartete. Die Kabine befand sich ganz oben - bei Julie Hudson. Aprea nahm an, daß sie den Fahrstuhl als letzte benützt hatte. Sie war also zu Hause.
Ungeduldig wartete er auf das Eintreffen der Kabine. Seine Hand umschloß den Griff des Messers in seiner Manteltasche.
Endlich traf der Fahrstuhl ein. Die Türen öffneten, und Aprea betrat die Kabine.
Während der Fahrt zog er das. Messer aus der Jacke. Die große Klinge blinkte im Neonlicht. Der Stecher war unterwegs zu seinem Opfer. Er würde vollenden, was er in jener Nacht begonnen hatte, Julie Hudson hatte nur noch kurze Zeit zu leben. Genau genommen war sie jetzt schon so gut wie tot.
***
Der Reporter bekam seinen Drink. Julie setzte sich ebenfalls. Sie tranken, und ihre Unterhaltung bewegte sich zunächst in privaten Bahnen.
Moses Langdon sprach über seinen beruflichen Werdegang. Bevor er bei ›High Life‹ anfing, hatte er Dutzende anderer Jobs. Für die Illustrierte arbeitete er aber nun schon sechs Jahre, und er sagte, er habe sich mit einigen guten Reportagen in der Branche einen Namen gemacht.
Er war seit einem Jahr verheiratet - keine Kinder. Er wollte keine, und seine Frau hatte sich damit abgefunden.
Nach dem dritten Whisky - der ihm ausgezeichnet schmeckte, wie er betonte (kein Wunder, es war der teuerste, den es in London zu kaufen gab) - meinte der Reporter lächelnd: »Es ist zwar furchtbar nett, mit Ihnen zu plaudern. Miß Hudson, aber allmählich sollten wir auch ein wenig an die Arbeit denken.«
Er legte ein kleines Gerät auf den Tisch. Es wurde von Batterien gespeist, und Moses Langdon konnte damit alles aufzeichnen, was Julie erzählte.
»Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich das Ding da mitlaufen lasse«, sagte er. »Die Zeiten, wo man mitgeschrieben hat, sind glücklicherweise vorbei. Ich habe die Kurzschrift nie richtig beherrscht. Ich bewundere die Leute, die schneller schreiben, als man sprechen kann.«
Das Gewitter nahm an Heftigkeit zu.
»Die richtige Untermalung«, sagte Langdon lächelnd. Aber dann wurde er ernst. »Es muß ein grauenvolles Erlebnis gewesen sein, dem Stecher von Soho zu begegnen. Zwölf Opfer gingen bereits auf sein Konto, und Sie sollten sein dreizehntes werden.«
Julie leerte ihr Glas. Ihre Hand zitterte, als sie das Glas auf den Tisch stellte.
Die Erinnerung an jene schreckliche Nacht war auf einmal wieder voll da. Julie hatte sich eingebildet, darüber hinweg zu sein, doch nun schlug ihr Herz schneller, und ihre Hände wurden feucht.
Es war noch lange nicht überwunden.
Langdon bat sie, zu erzählen, was geschehen war, und er wollte, daß sie ihm auch ihre Empfindungen schilderte.
Als sie langsam zu sprechen anfing, verstummte er. Allmählich sprach sie schneller, atemloser, denn sie regte sich auf, und als sie erzählte, wie Keenan Aprea sie gepackt und sie geglaubt hatte, nun müsse sie sterben, schrie sie schon fast, und ihre Augen waren dabei merkwürdig glasig, als hätte sie Fieber.
Sie brach atemlos ab, als sie von Apreas Tod sprach, und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.
Moses Langdon schwieg. Er ließ ihr Zeit, sich zu sammeln. Das Tonbandgerät hatte er vorübergehend abgeschaltet. Es war sehr still in dem großen
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