0965 - Der Killerbaum
Er sah das Blut und wußte, daß vor ihm keine Schaufensterpuppe lag, sondern eine nackte, weibliche Leiche.
Auch Hastings kriegte eine Gänsehaut. Er wollte sich an seinen Begleiter wenden, der neben ihm stand, plötzlich aber auf der Stelle schwankte und mit der rechten Hand zuckend nach vorn wies, über die Leiche und die Lichtung hinweg. »Das - das darf nicht wahr sein! Das ist nicht möglich. Das ist der absolute Wahnsinn!«
»Was meinst du damit?«
»Nein, das glaube ich nicht.«
Hastings war es leid und auch sauer darüber, keine Antwort bekommen zu haben. Er packte Lindner an beiden Schultern und drehte ihn herum, damit er ihm ins Gesicht schauen konnte. »Verdammt noch mal, was ist denn los? Rede endlich, aber vernünftig.«
Das Gesicht des älteren Mannes war durch eine tiefe Angst gezeichnet, die sogar Furchen in der Haut hinterlassen hatte. Der Blick flackerte, und Malcolm schüttelte den Kopf. »Der Baum, Jerome, ich - ich habe dir doch von dem Baum erzählt.«
»Ja, hast du. Was ist mit ihm?«
»Nichts mehr.«
»Wieso?«
Lindner befreite sich aus dem Griff und drehte sich wieder um. Er schaute abermals über die Lichtung hinweg, als er die Antwort gab, wobei seine Stimme leiser wurde. »Es gibt den Baum nicht mehr, Jerome. Er ist weg. Einfach verschwunden, verstehst du?«
***
Der Förster hatte jedes Wort verstanden. Er zögerte die Antwort allerdings hinaus. »Nein«, sagte er dann. »Ich begreife das nicht.«
»Das ist doch einfach, verflucht! Der Baum ist weg.« Malcolm lief trampelnd los und blieb dort stehen, wo sich das Gewächs einmal befunden hatte. Einige Male stieß er mit dem Fuß auf. »Hier, Jerome. Hier hat er gestanden.«
»Du bist dir sicher?«
»Ja!« schrie Lindner. »Es ist doch dein Wald, Jerome. Kennst du deine Bäume nicht?«
Der Waidmann winkte ab. »Nun mach mal einen Punkt, mein Freund. Heute müssen wir Förster größere Reviere betreuen als früher. Da kann man nicht mehr jeden Baum oder jeden Strauch kennen.«
»Aber dieser ist etwas Besonderes gewesen. Er hatte keine Knospe, auch kein Blatt. Nur starke Äste und krumme Zweige. Und eben das Wurzelwerk, das aus dem Boden wuchs und nicht in ihm, wie es normal der Fall hätte sein müssen.« Mit beiden Händen strich er fahrig durch sein Gesicht. »Das kann ich nicht verstehen, aber ich bin auch nicht blind. Ich habe den Baum hier gesehen, davon gehe ich nicht ab. Da kannst du sagen, was du willst.«
»Ich sage ja gar nichts.«
»Aber du glaubst mir nicht?«
Hastings wiegte den Kopf. »Ehrlich gesagt, ja. Ich halte mich lieber an die Tatsachen.« Er zeigte nach unten. »Zum Beispiel an die tote Frau hier.«
»Ja«, gab Lindner stöhnend zurück. »Das stimmt schon. Sie ist tot, und sie ist nicht verschwunden. Aber sie wurde aus dem Boden gedrückt. Es entstand dabei sogar ein Graben, den du leider jetzt nicht mehr sehen kannst, weil alles mit Laub gefüllt ist oder sich wieder aufgefüllt hat.« Er schüttelte mehrmals den Kopf. »Ich kann das einfach nicht begreifen. Damit komme ich nicht zurecht.«
Hastings ließ Malcolm Zeit, sich zu erholen. »Was war es denn für ein Baum? Eine Eiche, eine Linde oder…«
»Hör auf, Jerome. Es ist jetzt egal.« Er ging wieder zurück an seinen ursprünglichen Platz. »Aber wie ist es möglich, daß ein Baum einfach verschwindet? Ich kann mir nicht vorstellen, daß plötzlich jemand hier erscheint, ihn sich auf die Schulter wirft und einfach damit weggeht. Das ist unmöglich.«
»Jetzt redest du Unsinn, Malcolm.«
»Unsinn?« keifte der Rentner. »Der Baum war hier. Ich hätte dich gern mal an meiner Stelle gesehen.«
»Ich bin aber nicht an deiner Stelle. Und ich sehe auch keine Hinweise darauf, daß hier einmal ein Baum gestanden hat. Der Erdboden ist nicht aufgerissen, sondern glatt.«
»Weil er mit seinen Wurzeln nicht im Boden wuchs.« Lindner schlug sich gegen die Stirn. »Geht das denn in deinen verdammten Dickschädel nicht hinein?«
Jerome Hastings blieb ruhig, trotz des Anblicks der Toten in seiner Nähe.
»Mir kannst du das erzählen, Malcolm, aber was wird die Polizei sagen, wenn du die Beamten informierst?« Er reckte das Kinn vor. »Rechnest du eigentlich damit, daß man dir glauben wird? Die werden dich auslachen. - Das sind doch Märchen.«
»Sind es nicht!« schrie der Rentner dazwischen.
»Für dich nicht. Für mich vielleicht auch nicht. Aber kannst du denn beweisen, daß genau an dieser Stelle ein Baum gestanden hat, der nicht im, sondern
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