0966 - Der Weg des Jägers
sah Knudsen in dem Fremden nicht mehr die ungepflegte Erscheinung, sondern er spürte eine Ausstrahlung, die er nicht beschreiben konnte. Mit einem Mal hatte er das Gefühl, dem Mann am Tresen, dessen Namen er noch nicht einmal kannte, alles erzählen zu können. Nein, es sogar zu müssen!
»Birgit, die Frau meines Sohnes, erwartete ihr erstes Kind. Eine süße, kleine Tochter. Achtzehn Jahre ist das jetzt her. Bei der Geburt… es gab Komplikationen. Das Baby kam tot zur Welt. Die Ärzte sagten, sie könne nie wieder ein Kind bekommen.«
Knudsen nahm einen Schluck von seinem Pils. Merkwürdig. Mit jedem Wort, das er sprach, fiel es ihm leichter.
»Für sie brach eine Welt zusammen. Lars und Birgit wollten Abstand gewinnen. Das alte Leben hinter sich lassen. Also zogen sie nach… Madrid.«
Der Fremde setzte sich stocksteif auf, als er das hörte. Doch er unterbrach den Polizisten nicht.
Knudsen nickte. »Ganz recht. Madrid. Die letzte Stadt in Ihren Schnellheftern. Sieben Jahre später… erhielten meine Frau und ich… wir… man rief uns an und sagte uns, dass Birgit ermordet worden sei. Ihr - ihr Bauchraum war völlig aufgefetzt. Neben der Leiche kniete unser Sohn. Mit blutigen Händen. Man fand ihn jammernd und weinend vor. Man hielt ihn für den Täter und nahm ihn fest!«
Die Erinnerungen rissen Knudsen in die Vergangenheit, ließen ihn all die Schrecken vor elf Jahren aufs Neue durchleben.
»Natürlich besuchten wir ihn im Gefängnis. Doch er schien den Verstand verloren zu haben, denn er erzählte eine abstruse Geschichte. Birgit war aufgrund ihrer Unfähigkeit, ein Kind zu bekommen, so verzweifelt gewesen, dass sie alle nur denkbaren Schritte unternommen hatte. Termine bei unzähligen Ärzten, Besuche bei Wunderheilern, Teilnahme an Wallfahrten, Spenden an die zwielichtigsten Vereinigungen.«
Der Polizist schmierte mit einem Klaren die Kehle und lachte auf.
»Es wird Sie nicht wundern, dass sie eines Tages tatsächlich schwanger wurde. Natürlich war Lars von den Socken. Einerseits freute er sich, andererseits war er auch skeptisch. So sehr er auch nachfragte, Birgit weigerte sich, ihm zu erzählen, wie es dazu hatte kommen können. Und dann stand plötzlich dieser Mann in ihrer Wohnung. Er sagte, er sei gekommen, das Kind zu holen.«
Knudsen stockte. Er brauchte einen Augenblick Pause, wenn er nicht gleich wieder losheulen wollte. Er bestellte noch ein Pils und einen Klaren.
»Birgit wurde hysterisch. Sie weinte, keifte, schrie den Fremden an. Sie haben mir versprochen, dass ich noch ein Kind haben werde , brüllte sie. Warum wollen Sie es mir wegnehmen? Lars stand daneben, wie festgewachsen, und verstand die Welt nicht mehr. Der Besucher lächelte nur und sagte: Nein, ich habe versprochen, dass du schwanger werden würdest. Und das ist geschehen. Damit habe ich meinen Teil der Vereinbarung erfüllt. Im Gegenzug hast du dich verpflichtet, mir elf Gramm von deinem Fleisch und Blut zu geben. Die will ich jetzt haben: den Embryo. Birgit sank auf die Knie. Ich dachte, Sie würden nach der Geburt ein Stückchen Fleisch aus meinem Schenkel oder woher auch immer nehmen wollen. Tja, falsch gedacht! Sie haben mich betrogen! , jammerte Birgit. Nun, das ist es, was wir Dämonen im Allgemeinen tun! Lars glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Das ganze Gespräch erschien ihm so surreal wie mir, als er mir im Gefängnis davon berichtete. Und dann… dann verwandelte sich der Mann in ein Monster und riss den Embryo aus dem Mutterleib. Lars wollte das Scheusal aufhalten, aber es gelang ihm nicht.«
Knudsen brach ab und leerte das frische Pils mit einem Zug.
»Ich war der traurigen, aber festen Überzeugung, Lars hätte den Verstand verloren. Ob Birgit tatsächlich schwanger war, hat man nie festgestellt. Die Behörden hatten ihren Mörder, der sich mit seiner Geschichte nicht gerade unverdächtiger machte. Warum sollte man weiter ermitteln?«
»Hat man ihn verurteilt?«
»Nein. Bevor es zur Verhandlung kam, erhängte er sich in seiner Zelle. Nur kurz danach ist meine Frau vor Kummer gestorben. Ich habe lange gebraucht, darüber hinwegzukommen. Sehr lange. Und kaum habe ich es geschafft, sterben wieder Frauen. Und zwar genau so, wie Birgit gestorben ist! Eine boshafte Stimme in meinem Hinterkopf behauptet ständig, Lars habe die Wahrheit gesprochen. Ich hätte ihm glauben müssen, dann könnten er und meine Frau noch leben. Und jetzt kommen Sie daher und erzählen mir das Gleiche!«
Der Fremde legte die
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