097 - Leichenvögel
verknüpfen.
Sie
hatte nie nach Tonklin gemocht, doch Ernest zuliebe war sie ihm aus der großen
Stadt nachgefolgt.
Seit
ihrem dreiundzwanzigsten Lebensjahr wohnte sie in Tonklin, kannte jeden, wie es
in einem solchen Dorf üblich war, wußte, was der eine über den anderen dachte.
Hier konnte keiner etwas verbergen. Das hatte sie anfangs am meisten gestört.
Doch dann hatte sie sich daran gewöhnt.
Es
ging im Leben nicht ohne Kompromisse.
Nachdenklich
ging sie die schmalen, verschneiten Wege.
Der
frische Grabhügel war ebenfalls zugeschneit. Die beschrifteten Schleifen ragten
unter der Schneedecke vor, und das frische Grün der Moos– und Tannenkränze war
weiß überpudert.
Die
Ruhe des Todes lag über dem friedlichen Ort. Unwillkürlich kam ihr der Gedanke,
daß es die Toten eigentlich gar nicht so schlimm hatten. Im Gegenteil. Man
mußte sie beneiden.
So
etwas wie Todessehnsucht überkam sie. Ohne Ernest hatte ihr Leben keinen Sinn
mehr. Die Tage waren leer und fad.
Wäre
Janette nicht gewesen, hätte sie sicherlich eine Dummheit gemacht.
Aber
so hatte sie Verantwortung. Weil das Kind da war, mußte sie weiterexistieren.
Sie
seufzte, und ihre Augen wurden feucht.
Sie
hatte keine Blumen mitgebracht. Dies hätte keinen Sinn gehabt bei diesem
Wetter. Sie hatte einfach nur hierherkommen wollen, um Ernest nahe zu sein.
Ob
dieser Wunsch auch künftighin so bleiben würde oder ob die Erinnerung mit der
Zeit verblaßte, wie es bei allen Dingen im Leben war?
Sie
konnte es sich nicht vorstellen.
Janette
war sehr schweigsam. Mit ernstem Gesicht stand sie neben ihrer Mutter.
Das
Kind schlug den Kragen höher.
»Ist
dir kalt, Janette?«
»Ein
bißchen.«
Der
Wind hier oben zwischen den Bergen blies über die Grabstätten hinweg. Alle
Gräber waren sehr sauber abgedeckt und wirkten gepflegt. Auf einigen brannten
kleine rote Lichtchen, die am vergangenen Sonntag von Angehörigen dort
aufgestellt worden waren. Auch sie wollte eine solche Laterne in den nächsten
Tagen bringen.
Zehn
Minuten verharrte sie in stillem Gebet und in Erinnerungen. Dann nahm sie
Janette bei der Hand, um den Weg zurückzugehen.
Ernest
Roland lag in der hintersten Reihe des neuen Friedhofes.
Außer
der Mutter mit ihrer zwölfjährigen Tochter hielt sich zur Stunde niemand dort
auf.
Anabelle
Roland ging einen anderen Weg als den, den sie gekommen war.
Die,
grauen Nebel wogten über den flachen, abgedeckten Gräbern, lagen wie Schleier
zwischen den Kreuzen und feuchten Grabsteinen. Ein Vogel hüpfte in einem kahlen
Baum hin und her, als müsse ersich durch die Bewegung Wärme
verschaffen.
In
dieser stillen Abgeschiedenheit fiel einem alles auf.
Sie
stutzte.
Rechts
das Grab.
Es
war aufgewühlt. Große Erdbrocken lagen herum. Die Tannenzweige waren überall
verstreut. Ein Teil des Sarges ragte aus dem gefrorenen Boden.
Der
Sarg war aufgeplatzt, ein Arm ragte hervor.
Anabelle
Roland sträubten sich die Haar.
Sie
sah, wie Janette zusammenzuckte. Geistesgegenwärtig riß die Mutter das Kind
herum, hielt ihm die Augen zu, damit es den schrecklichen Anblick nicht
wahrnähme.
Der
Arm, der aus dem Sarg hervorragte, sah aus, als wäre er von zahllosen Ratten
angefressen worden.
●
»Mammi!
Mammi!« schrie Janette los. »Was ist das? Was ist da passiert?!«
Anabelle
Roland, sonst um keine Antwort verlegen, wußte nicht, was sie sagen sollte.
Der
Anblick war so gräßlich, daß sie es nicht wagte, noch einmal einen Blick
dorthin zu werfen.
Janette
fest an sich pressend, ging sie eilig weiter.
Die
nächste Grabreihe.
Ein
Stöhnen entrann sich den Lippen der Witwe.
Auch
hier ein aufgewühltes Grab. Der Oberkörper der Leiche ragte aus dem Boden. Die
Arme waren gespreizt, die Finger verkrampft, als hätte diese Leiche sich gegen
die unheilige Handlung, die an ihr vollzogen worden war, wehren wollen.
Und
auch hier die unübersehbaren, schrecklichen Spuren, die nachträglich
aufgetreten waren.
Das
verwesende Fleisch war herausgerissen, einzelne Stücke lagen um die Leiche
herum verstreut, als wären Aasgeier bei der Mahlzeit gestört worden.
Janette
schrie auf. Sie riß sich los und lief schreiend davon.
Anabelle
Roland schnürte das Grauen die Kehle zu.
»Jaaaaneeettte!«
schrie sie, ihre ganze Kraft zusammennehmend. Sie erschrak vor ihrer eigenen
Stimme.
Anabelle
Roland lief los, um das Mädchen einzuholen, das durch die furchtbaren Bilder einen
solchen Schreck bekommen hatte, daß es offenbar nicht mehr wußte, was
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