0972 - Finsteres Erbe
entschloss sich Nadajo zu einer frevelhaften Tat: Er öffnete die Vergangene Bibliothek.«
»Die hast du vorhin bereits erwähnt. Ich habe aber noch nie davon gehört«, gestand Zamorra.
»Ein versiegelter Raum unter den Ruinen des früheren Herrscherpalastes in Celuru.«
An diese Stadt konnte sich der Meister des Übersinnlichen erinnern. In ihr hatte der letzte böse Erbfolger residiert.
»In ihm ruhte das gesammelte Wissen über das, was wir das Dunkle Zeitalter nennen. Wissen, das Nadajo in seinen vorherigen Leben für zu gefährlich erachtete und das er deshalb unter Verschluss hielt. Er erzählte mir, dass einer seiner Vorgänger dies beschlossen habe und er seitdem diesem Entschluss folgte, auch wenn er längst nicht mehr wusste, warum. Er besaß als Einziger einen Schlüssel für die Vergangene Bibliothek und vererbte ihn sich von einer Inkarnation zur nächsten weiter.«
Der Hofmagier verstummte und schwieg für einige Sekunden. Zamorra vermutete, dass er sich dem unangenehmen Teil der Geschichte näherte.
»Viele Tage blieb Nadajo verschwunden. Da es uns aber untersagt war, ihm in die Bibliothek zu folgen, warteten wir. Ich sah ihn erst wieder, als er mich zu sich rief. Blass und nervös. Er zeigte mir einen blässlich blauen Kristall, nicht unähnlich dem, den deine Begleiterin benutzt. In ihm seien die Erinnerungen und das Wissen eines seiner Vorgänger gespeichert, eines Mannes namens Hondrid, sagte er. Der, den auch du vorhin erwähnt hast.«
Hondrid Saer’ysap Chluechlyn, der letzte böse Erbfolger. Was hatte er mit dem Schwarzen Stein zu schaffen? Hatte er seine Magie darin konserviert? Hatte er mit ihm die Finsteren beschworen oder ihnen gehuldigt?
Zamorra hätte mit allem gerechnet, aber nicht mit dem, was Sambate Panashiin dann erzählte.
***
Hondrid saß auf einem umgestürzten Baum am Rande der Lichtung und betrachtete den senkrecht in der Luft stehenden Spalt und die hässlichen Wesen, die sich in seiner Nähe tummelten.
Wut erfüllte ihn.
Darüber, dass sich ihm die Finsteren nicht unterwarfen.
Darüber, dass er nichts dagegen unternehmen konnte.
Darüber, dass er selbst die Schuld daran trug.
Nicht Hondrid Saer’ysap Chluechlyn, sondern eine seiner früheren Inkarnationen, was letztlich aber aufs Gleiche hinauslief.
Als er sich Lemuria unterwarf, holte er unzählige Dämonen aus den Höllentiefen, auf dass sie ihm dienten und die Menschen knechteten. Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich das Land zu einem Hort des Bösen.
Wie der Nektar des Blautaumlers den Süßschweber anlockte, so lockte die Bosheit die Finsteren an. Nicht einmal der Erbfolger wusste, woher sie kamen, doch eines Tages öffnete sich ein winziger Spalt in eine andere Welt und eine bislang unbekannte Wesenheit drang durch ihn herüber.
Der erste Finstere hatte Lemuria erreicht.
In seiner damaligen Unerfahrenheit hatte der Erbfolger geglaubt, den Spalt zwischen den Welten und die daraus hervorschlüpfenden Kreaturen zu seinem Vorteil und zur Stärkung seiner Herrschaft einsetzen zu können. So speiste er das Tor mit seiner Magie und vergrößerte es so weit, dass immer mehr Finstere in seine Welt gelangten. Ein langsamer, aber stetiger Nachschub.
Im Laufe der Zeit verbreiteten sie Angst und Schrecken, doch sie weigerten sich, dem Erbfolger zu dienen.
Zunächst ließ er sie gewähren, waren sie doch gering an Zahl.
Doch in seiner Inkarnation als Hondrid erkannte er den Fehler, den er begangen hatte. Denn der Spalt wuchs und spuckte ständig weitere Finstere aus. Wenn sich die Entwicklung fortsetzte, würden sie irgendwann das Land überschwemmen und keine Menschen mehr übrig lassen, über die er herrschen konnte. Natürlich wäre es möglich, sie zu töten - aber den Spalt zu schließen, gelang ihm nicht mehr. Dafür reichte seine Magie nicht aus. Und solange er offen war, würde immer wieder Nachschub herüberschwappen.
Ausgerechnet jetzt weitete sich der Zugang von drüben! Zu einer Zeit, wo er kurz davor stand, seinen alten Körper aufzugeben und den seines Sohnes bei dessen Geburt zu übernehmen. Danach würden Jahre vergehen, ehe er die Erbfolger-Magie anzuwenden vermochte.
Was, wenn er die Finsteren, die den Übergang bereits geschafft hatten, noch während seiner momentanen Inkarnation vernichtete? Die, die nachkamen, wären darüber sicherlich nicht erfreut. Und er selbst steckte bald im Leib eines Säuglings, der nichts dagegen unternehmen konnte.
Nein, er durfte es nicht so weit kommen
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