0979 - Der Totenhügel
Oscar«, flüsterte sie. »Gemeinsam sind wir stark. Das hat Daddy immer gesagt. Wir müssen nur zusammenhalten, dann ist alles okay. Nur zusammenhalten, mehr brauchen wir nicht zu tun.«
Ihre Freundin ließ sich Zeit. Auch nach zwei, drei Minuten hatte Lilian noch nichts entdeckt. Keine Veränderung. Der Boden war und blieb dicht. Sie spürte auch kein Vibrieren, kein Grummeln oder Rumoren aus er Tiefe, alles blieb so ruhig wie immer.
Aber es veränderte sich doch etwas.
Ein kieksender Laut drang über die Lippen des Mädchens. Lilian wusste plötzlich nicht mehr, wo ihr der Kopf stand, denn sie musste erkennen, dass ihre Freundin nicht gelogen hatte. Da unten im Hügel passierte wirklich etwas.
Da war ein Licht zu sehen. Ein komisches Licht. Oder war es kein Licht? Hatte sich der Hügel verändert?
Nervös huschte die Zunge über die kleinen Lippen. Lilian spürte in der Kehle das Kratzen, und dann war es tatsächlich geschehen.
Der Boden unter ihr war offen. Vor Schreck wäre ihr Oscar beinahe aus den Händen gerutscht, denn sie erlebte etwas, womit sie nie gerechnet hätte.
Lilian Kline schaute direkt in die Tiefe des Hügels und sah zum erstenmal ihre Freundin…
Das Kind stöhnte auf. Es war kein lautes Geräusch, sondern glich mehr einem Atem, was da tief aus der Kehle drang. Wäre sie jetzt etwas gefragt worden, sie hätte keine Antwort geben können. Bei ihr war alles anders geworden. Sie konnte auch nicht mehr denken, sondern nur schauen, und sie spürte hinter den Schläfen ein leichtes Klopfen.
Dort unten lag sie. Ja, das war ihre Freundin, und sie war eine schöne Frau. Eine sehr schöne sogar, wie Lilian fand.
Zunächst bekam sie doch einen tiefen Schreck, denn ihre erwachsene Freundin lag so starr auf dem Rücken wie eine Tote. Die Beine zusammengelegt, die Arme eng am Körper, den Kopf leicht nach hinten gekippt, so dass ihr Haar ebenfalls zurückfiel, um sich dann als breites rötlichblondes Vlies um den Kopf herum auszubreiten. Die Freundin war auch angezogen, aber sie trug kein Totenhemd, das man ja bekanntlich den Leichen überstreifte, wie Lilian wusste. Sie war in Stoff eingewickelt. In einen grünlichen Stoff, der in mehreren Bahnen eng um ihren Körper geschlungen war, dicht über der Brust begann und an den Waden endete.
Lilian konnte auch das Gesicht erkennen. Es war ihr fremd, und damit hatte sie auch gerechnet. Es rührte und regte sich nichts darin. Das Gesicht hatte weiche Züge, es wirkte entspannt, weil ihre Freundin die Augen geschlossen hielt wie eine Schlafende. Lilian sah auch nicht, dass sie atmete. Sie lag einfach nur da, umgeben von diesem seltsamen Licht. Es war eigentlich kein Licht. Es war wie Glas. Es war dünn, grünlich und natürlich durchsichtig. Es war einfach anders, und es gab auch keine Quelle, aus der es abstrahlte.
Das Licht war da. Ihre Freundin war da.
Und ich bin auch hier, dachte Lilian. Sie war jetzt froh darüber, wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Sie nahm es auch hin, auf der Hügelkuppe zu stehen wie auf einer Glasplatte, die allerdings hart genug war, um nicht einzubrechen. Der Blick verlor sich in der Tiefe, und sie musste sich zusammenreißen, um die Gedanken zu ordnen. Lilian wollte nicht leer im Kopf werden. Sie akzeptierte die Veränderung des Hügels, aber die kindliche Neugierde war nicht gestillt worden. Das Mädchen wollten mehr wissen.
»Ich sehe dich, Freundin.«
»Das ist gut. Wie gefalle ich dir?«
»Du bist schön.«
»Bin ich das wirklich?«
»Ja, wenn ich es dir doch sage.«
»Ich muss es eben genau wissen, Lilian, und du bist meine ehrliche Freundin.«
Lilian hatte sich wieder gefangen und die Überraschung verdaut. Sie wunderte sich über die Frage.
Warum wollte die Frau dort unten genau wissen, wie sie aussah? Sie hatte noch einmal nachgefragt, als wäre sie zuerst belogen worden.
»Du bist wirklich schön, Freundin, das kann ich dir gern bestätigen. Meine Mutter ist auch schön. Nur hat sie ganz kurzes, helles Haar.«
»Ja, das ist gut«, erklärte die Fremde. »Das ist wirklich sehr, sehr gut. Dann sehe ich aus wie ein Mensch!«
Dieser letzte Satz hatte das Kind geschockt. Es begriff ihn nicht so recht. Mit einer intuitiven Bewegung presste es die Puppe noch fester an den Körper. Dabei bewegten sich die Lippen, aber Lilian war einfach nicht in der Lage, auch nur ein Wort zu sagen. Sie dachte über den letzten Satz nach, ohne es zu wollen.
Warum hatte ihre Freundin das gesagt? Sehe ich aus wie
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